Mikroaggressionen im Alltag, Rassismus, Kolonialismus, DDR, Angststörung, Herkunft, Verlust, queer sein und mitten drin eine Gleichung von drei Bananen – ganz schön viel los in Olivia Wenzels Roman-Debüt „1000 Serpentinen Angst“. Zwei Drittel Dialog, Zwiegespräch, innerer Monolog. Ein Drittel Erzählung. Starke Bilder. Mein Lieblingsbuch 2020.

2020 – so völlig anders als erwartet. Ende März, das öffentliche Leben weitestgehend stillgelegt, entdecke ich Olivia Wenzels Roman. In diesem Fall tatsächlich ein reiner Cover-Kauf. Ich erinnere mich noch, wie ich eher wenig enthusiastisch online nach neuem Lesestoff suche. Zu diesem Zeitpunkt habe ich gerade eine Reise abgesagt, die Pandemie hat die Welt innerhalb kürzester Zeit fest im Griff. Das Regal leer gelesen, ich habe eine ziemliche Lesekrise und schaue mehr aus Gewohnheit online nach Büchern. Dann springt mir “1000 Serpentinen Angst” förmlich entgegen mit seinem leuchtend gelben Cover, der auffälligen pink-schwarzen Grafik. 

Schnell die Bestellung tätigen, null damit rechnen, dass mich das Buch umhaut. Eines Besseren belehrt werden:

Eingezogen in einen wilden Strom

Olivia Wenzel lässt keine Zeit zum Durchatmen und Ankommen. Von Seite eins an zieht sie uns, die Leser*innen, in einen Sog von Bildern, Erlebnissen, Gefühlen und Beobachtungen. Viel mehr Collage als stringente Handlung. Treibende Kraft hierbei ist ein Stimme, die drängend, fordernd und grenzüberschreitend Fragen stellt. Durchgehend versal gesetzt hat sie nicht nur visuell eine hervorgehobene Rolle, sondern sie ist es, die die Erinnerungen der Protagonistin an die Oberfläche drängt, Reflexion nicht nur anregt, sondern einfordert. Die Protagonistin folgt und antwortet ehrlich, tief, schockierend und nicht zuletzt bewegend.

Die Stimme 

Wer oder was diese Stimme ist, wird bis zum Ende des Buches nicht aufgeklärt. Ob es sich um einen inneren Monolog, die Dämonen der Protagonistin oder vielleicht auch eine eigene Bewusstseinsebene handelt, wird nicht näher thematisiert – muss es auch nicht, entscheidend sind die permanenten, drängenden Fragen der Stimme. Sie führt durch den Sog der Bilder und Erinnerungen und gibt in dieser wilden Collage Halt und Anlass zum Nachdenken. 

Olivia Wenzels Roman ist in drei Teile geteilt, wobei der erste und letzte Teil durch das Zwiegespräch mit der Stimme getragen werden. Das Lesen fühlt sich wie eine wilde Inszenierung auf der Theaterbühne an, ein nicht abreißen wollender Strom von Orten. Wir treffen die Protagonistin in Thüringen, New York, Marokko, dem Vietnam… Erfahren, wie sie sich an diesen Orten fühlt, was sie mit ihnen verbindet und nicht zuletzt, wie man ihr dort begegnet. Wir können uns der Macht ihrer Worte und Schilderungen nicht entziehen. Wir bekommen neue Denkanstöße, sehen Mikroaggressionen, denen die Protagonistin als schwarze Frau in einem weißen Land alltäglich ausgesetzt ist – zuweilen nehmen uns ihre schonungslosen Schilderungen die Luft zum Atmen, z.B. als sie an einem Brandenburger Badesee auf Nazis trifft:

“(…)WELCHER TAG? Als ich baden gehen wollte und da war nur rechter Terror. DAS KLINGT ABGEDROSCHEN. National befreite Zonen, so was halt. WIE VIELE SCHWIMMABZEICHEN HAST DU? …rechter Terror ist, am See zu sitzen und vier Nazis kommen, zwei Frauen und zwei Männer. Sie sehen uns nicht, wir sitzen weit hinten im Schatten und haben trotzdem Angst. (…)”

Olivia Wenzel in „1000 Serpentinen Angst“

“Picture this”

Unterbrochen wird der wilde Strom durch den zweiten Teil des Buches (“picture this”), in dem Olivia Wenzel große Bilder für uns zeichnet – detailreich und wortgewaltig. Bilder der Kindheit ihrer Mutter, Bilder von Neubausiedlungen der DDR, Bilder einer früheren Verheißung, die eben dieser im Laufe der Geschichte beraubt wurden. Die Protagonistin gibt uns freien und ungehinderten Einblick in ihr Innerstes, dieses mal ohne ein äußeres Drängen der Stimme und wir tauchen ein in die Geschichte ihrer Herkunft, den Verlust des Bruders und ihre Angststörung. 

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die sich für neue Sprachformen begeistern oder damit beginnen wollen. Olivia Wenzels Sprache hat eine unglaubliche Kraft. Durch die Vielzahl von Themen, Orten und Zeitdimensionen – das vermeintliche Chaos – lenkt sie uns souverän und stilistisch sicher. 
  • Alle, die in einer weißen Welt (Mikro-) Aggressionen im Alltag nicht-weißer Menschen identifizieren, verstehen und unterlassen möchten. Olivia Wenzel öffnet die Augen dafür, wie sich vermeintliche Kleinigkeiten anfühlen können.
  • Alle, die denken, eine Banane sei immer nur eine Banane. Unabhängig von Ort, Geschlecht oder Hautfarbe. 

Und bei mir so?

Meine Entdeckung des Buches liegt mittlerweile einige Zeit zurück. Olivia Wenzel hat mit ihrem Buch einiges in mir ausgelöst. Ich habe es verschlungen, immer wieder über Fragen der Stimme nachgedacht, seit längerem wieder Passagen markiert und raus geschrieben. Und ganz nebenbei konnte kein einziges Buch in den restlichen neun Monaten 2020 – und ich hab ganz schön viele gelesen – “1000 Serpentinen Angst” vom Thron des Lieblingsbuchs des Jahres stoßen. 

Infos zum Buch im Überblick