Was beginnt wie eine klassische Highschool-Geschichte – Lacross-Team, ausschweifende Partys, coole Kids – schlägt schnell um in die Geschichte einer tragischen Nacht, die mehr als nur ein Leben für immer verändern wird. Kate Reed Petty hat ein furioses Debüt geschrieben, das Genregrenzen überschreitet und mutig mit Form und Inhalt experimentiert. 

Es erscheint mir fast unglaublich, aber »True Story« von Kate Reed Petty ist tatsächlich erst mein zweites Buch aus dem Ecco Verlag. Trotzdem verbinde ich schon ganz konkrete Dinge mit diesem noch jungen HarperCollins-Imprint: starke Frauenstimmen, außergewöhnliche Texte und eine unglaublich ästhetische Covergestaltung. Also eine völlig klare Sache, dass ich auch im aktuellen Ecco-Programm unbedingt zuschlagen musste. Vielleicht auch mehrfach, aber jetzt bleiben wir erst mal bei »True Story«.

Eine lebensverändernde Nacht

Alice wird nach einer Highschool-Party von zwei Jungs nach Hause gefahren – sie ist betrunken, immer wieder bewusstlos. Ihre beiden Begleiter rühmen sich anschließend damit, Sex mit ihr gehabt zu haben, tragen sie vor sich wie eine bewusstlose Trophäe. Was für die beiden und ihre Freunde zur Geschichte einer legendären Party wird, wird für Alice zu einer lebensverändernden Nacht von enormer Tragweite, an die sie selbst keine Erinnerung hat.

Während Alice die Schule wechselt, nicht an das ursprünglich gedachte College geht und sich von Job zu Job als Texterin und Ghostwriterin hangelt, macht zumindest einer der Täter die erhoffte Karriere, führt ein Leben in Superlativen. Wie es um ihn und seine ehemaligen Mitspieler im Lacross-Team steht, das entblättert Kate Reed Petty in einem ganz eigenen Sound. Zwischen Suchtproblemen, Splatter-Sequenzen, Drehbüchern und aufgezeichneten Telefonaten zeichnet sie ein verästeltes und detailreiches Bild einer Gruppe von Jugendlichen, die als Erwachsene alle auf ihre eigene Weise von den Geschehnissen der Highschool geprägt sind. 

True Story?

Und dann ist da noch Haley, glühende Feministin und Filmemacherin, Alices Komplizin aus Schultagen. Sie möchte die Geschichte dieser Nacht erzählen, drängt Alice immer wieder, endlich zu sprechen. Fast scheint es, als sei Alice auf der Flucht vor ihrer alten Freundin, die versucht, ihr Schweigen zu brechen, sie zum Sprechen zu zwingen. Doch wer hat das Recht, diese Geschichte zu erzählen, wer muss schweigen?

Wie und durch welche Akteur:innen genau Alice das Schweigen über jene Nacht aufgezwungen wurde, veranschaulicht Kate Reed Petty auf simple, aber geniale Weise: Wir können verschiedene Entwürfe ihrer College-Bewerbungen lesen. Inklusive der Kommentare ihrer Lehrerin. Schnell wird klar, eine Vergewaltigung ist aus der Lebensgeschichte zu tilgen. Niemand möchte so etwas lesen. Alice selbst ist dafür verantwortlich, die Phase längerer Krankheit in ihrem noch jungen Lebenslauf mit einem Märchen zu füllen. Selbstverständlich ein Märchen, das weit weg von sexueller Gewalt oder gar dem eindeutigen Benennen von Täter- und Opferschaft spielt.

Ob Haley ihrer Freundin selbstlos helfen möchte, das Material für ihren Film haben will oder mit einer ganz eigenen Ebene der Schuld zu kämpfen hat, muss jede:r für sich selbst beantworten und rausfinden. Alice selbst zumindest befreit sich kraftvoll und selbstbestimmt vom Druck ihrer Freundin: 

»Und das, Haley, ist das Buch, das du gerade zu Ende gelesen hast. Es ist die Gruselgeschichte, die zu schreiben ich mir immer erträumt hatte. Vielleicht eine unkonventionelle Gruselgeschichte, aber die furchterregendste Story, die ich kenne. Ich hoffe, dass du das hier endlich als die Geschichte annehmen kannst, die zu erzählen du mich immer gedrängt hast.« 
Kate Reed Petty in »True Story«, S. 445 

Und genau das war »True Story« auch für mich: eine unkonventionelle Gruselgeschichte, die wichtige Themen verhandelt, gleichzeitig sehr plotgetrieben und spannend ist. Ein besonders Debüt, das lange im Kopf bleibt. 

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die nach einem furchtlosen Debüt suchen, das Genregrenzen elegant ignoriert. 
  • Alle, die sich mit Themen wie Täterschaft und sexueller Gewalt beschäftigen möchten, gleichzeitig aber auch eine ordentliche Portion Spannung brauchen.
  • Alle, die sich der Frage stellen möchten, ob Gerücht und Wahrheit ähnliche Konsequenzen haben können. 

Und bei mir so?

Ich habe »True Story« sehr gern gelesen und bin in nur einem Wochenende durch die knapp 500 Seiten geflogen. Die behandelten Themen sind ernst, sie gehen an die Substanz. Kate Reed Petty stellt Fragen, die gestellt werden müssen, verknüpft sie aber mit einer Plotgetriebenheit, die einen nur so durch den Text jagt. Ein furioses und mutiges Debüt, vor dem ich nicht gedacht hätte, dass es überhaupt eines sein kann. Gerne mehr davon!

Infos zum Buch im Überblick

  • Ecco Verlag 
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Wibke Kuhn
  • Roman / Deutsche Erstausgabe
  • ISBN: 978-3-7530-0008-4
  • Erschienen am 26. Oktober 2021

Vielen Dank an Ecco für das Rezensionsexemplar!