Und am Ende steht die Erlösung durch Entfristung. In Hilary Leichters Debütroman “Die Hauptsache” nimmt uns die namenlose Icherzählerin mit auf einen wilden und skurrilen Ritt durch die Zeitarbeit im modernen Kapitalismus. Sie ist Humankapital, stellt ihre Jobs über alles und zeigt meist bedingungslose Loyalität ihren wechselnden Auftraggeber:innen gegenüber, sei es im Mordhandwerk, auf Piratenschiffen oder auch in Bomben abwerfenden Zeppelins. Mehr und mehr kristallisieren sich Zweifel heraus: Kann der verlockende Mythos der Festanstellung für all das entschädigen?
Ich bin großer Fan von unabhängigen Verlagen und versuche immer mindestens ausgewogen zu lesen, was das Verhältnis von Titeln der unabhängigen und hinreichend bekannten großen Verlage betrifft. Daher studiere ich die Vorschauen der unabhängigen Verlage fast schon und lege ein besonderes Augenmerk auf Indiebooks. “Die Hauptsache” ist im Arche-Verlag erschienen und nicht nur das Cover hat mich direkt abgeholt – ich könnte hier und jetzt locker eine Bildanalyse in Bezug auf den Romaninhalt hinlegen, was für ein Match, lieber Arche-Verlag – sondern auch das Thema, das gerade in der aktuellen Situation im Homeoffice noch mal besonders nah an meiner Realität ist: Das Durchdringen des Alltags mit Arbeit, die Vermischung beider Welten und der Frage, ob wir eigentlich jemals so richtig aufhören zu arbeiten.
Ein kleiner Exkurs zu unabhängigen Verlagen: Es gibt sie in Hülle und Fülle, sie haben nur nicht die gleiche Marketingmaschinerie wie manche große Konkurrenten und sind oftmals angewiesen auf die Buchhändler:innen unabhängiger Buchhandlungen, die dann den entsprechenden Fokus vor Ort in der direkten Beratung setzen. Dies war gerade im letzten Jahr durch Schließungen des Buchhandels nur eingeschränkt möglich. Dass zusätzlich die Buchmessen nicht wie gewohnt stattgefunden haben, ist eine weitere Herausforderung 2020 gewesen, die auch 2021 zumindest teilweise weiter Bestand haben wird. Doch ihr könnt euch auch alle ganz fabelhaft eigeninitiativ einen Überblick über die diverse und vielseitige unabhängige Verlagslandschaft verschaffen. Dafür finde ich z.B. "Es geht um das Buch", ein Katalog der unabhängigen Verlage, jährlich herausgegeben von der Kurt Wolff Stiftung, ganz hervorragend.
Ich will ehrlich sein, die Erwartungen waren hoch, und (Spoiler) sie wurden nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil – ich habe mich schockverliebt in die Handlung, die Sprache der Autorin und nicht zuletzt auch in die wunderbare Übersetzung aus dem Englischen von Gregor Runge.
“Nichts ist persönlicher als deine Performance”
Die Icherzählerin ist als Aushilfe in einer New Yorker Zeitarbeitsagentur angestellt und bekommt von ihrer Sachbearbeiterin Farren permanent wechselnde Jobs vermittelt. Hierbei am wichtigsten: Alles zu vollster Zufriedenheit erledigen, niemals kündigen oder den Auftrag nicht erfüllen und die perfekte Arbeit über Moral und persönliches Empfinden stellen. Klingt hart? Ist es auch. Nur durch die Skurrilität der Jobs und der gesamten Welt der Erzählung, die mit Geistern, Hexen und Piratenschiffen fantastische und märchenhafte Züge annimmt, ist diese schonungslose und präzise Parabel auf das heutige Arbeitsleben zu ertragen. Und dies ist einzig und allein der Autorin und ihrer Schreibkunst zu verdanken: Hilary Leichter ist eine wahnsinnig präzise und kluge Beobachterin unserer Zeit und konstruiert ein fast schon beängstigend in die Realität übertragbares Bild der modernen Arbeitswelt. Bei aller Beklemmung und Härte streut sie mit ihrer pointierten Erzählweise immer wieder zum richtigen Zeitpunkt Witz und Finesse in die Erzählung, sodass der Stoff zwar nicht leichter wird, aber deutlich leichter zu genießen ist.
Wie viel Unsicherheit ist erträglich?
Arbeit in der Piraterie, Assistentin eines Mörders, menschlicher Ersatz für eine Seepocke, Mitarbeiterin im Bombenabwurf eines Zeppelins – vielleicht fragt ihr euch jetzt (erst mal zu Recht), warum jemand solche Jobs machen sollte? Weil die Erzählerin keine Wahl hat. Ihre Großmutter war Aushilfe, ihre Mutter ebenso. Sie alle gehören einer austauschbaren Armee von Aushilfen und Vertretungen an.
Ihre Mutter ist auch diejenige, die ihr beibringt, für jede Lebenslage den richtigen Partner zu haben und sie noch als Kind zu ihrem ersten Aushilfsjob, sie ist hier in Vertretung für einen Geist engagiert und öffnet alle 40 Minuten in der gleichen Reihenfolge die Türen des Hauses, bringt. Die Erzählerin ist als Aushilfe sozialisiert worden und fügt sich dieser Vorbestimmung. Über allem steht die Aussicht auf baldige Entfristung, die als Entlohnung für alle Mühen und Anstrengungen steht. Doch wie lange dauern diese Anstrengungen an und was bleibt dabei alles auf der Strecke, lohnt sich dieses Leben? Genau diesen Fragen geht Hilary Leichter auf den Grund und nur so viel sei vorweggenommen: Das Privatleben der Erzählerin, u. a. repräsentiert durch ihre 18 Partner, gerät ab einem bestimmten Punkt aus den Fugen und wird unumkehrbar durch das Leben in Zeitarbeit verändert.
Wer sollte dieses Buch lesen?
- Alle, die arbeiten – eiskalt aus der Pressestimme der Washington Post geklaut, aber es ist Fakt.
- Alle, die auf die glorreiche Entfristung warten und noch in der Entscheidungsfindung sind, ob sie das Stadium des Wartens noch länger dulden möchten.
- Alle, die eine kluge Analyse des kapitalistischen Arbeitsmarktes in extremster Ausprägung lesen und dabei aber auch grimmig lachen möchten.
- Ausnahmsweise hier ein vierter Punkt: Leute, lest es einfach alle. Mir fällt niemand ein, die oder der es nicht lesen sollte.
Und bei mir so?
“Die Hauptsache” ist ein Buch, das nachwirkt und bleiben wird. Es regt zum Nachdenken an und besticht mit seiner skurrilen Welt, die unserer wirklichen aber doch erschreckend nahekommt. Besonders beschäftigt mich der Umstand, dass die Erzählerin immer dann ihre Jobs verliert, wenn sie eigenständig und moralisch handelt. Übertragbar auf unsere Arbeitsrealität? Ich fürchte in einigen Fällen leider schon.
Infos zum Buch im Überblick
- Verlag: Arche
- Erscheinungstermin: 19.02.2021
- ISBN: 978-3-7160-2795-0
Danke an Arche für das Rezensionsexemplar an dieser Stelle, dieses Debüt hat wirklich Spaß gemacht!
Kommentare von Anne