Sophie Passmann schreibt über das Erwachsenwerden. Erwachsenwerden als Millennial aus dem gutbürgerlichen Elternhaus, Aufbruch in ein Leben voller Stuck und Riesling. Ein wütender Rant über die eigene Person und Herkunft, Privilegien, den Freundeskreis und mangelnde Diskussionskultur. Ich bleibe vor allem eines: ratlos zurück.

Ich glaube, selten hatte ich so hohe Erwartungen an ein Buch wie an “Komplett Gänsehaut”. Die Vorfreude war riesig, da ich gefühlt alles von Sophie Passmann konsumiere und es kaum abwarten konnte, endlich ihr neues Buch in den Händen halten zu können. Hohe (überhöhte?) Erwartungen sind natürlich immer ein wenig gefährlich und können leicht enttäuscht werden. Leider ist das bei “Komplett Gänsehaut” auf einer inhaltlichen Ebene passiert. Ich habe es gestern direkt beendet und wollte mit dieser Besprechung erst noch warten, da ich dachte, vielleicht finde ich noch die Antwort auf die Frage, die ich mir schon während der Lektüre immer wieder gestellt hab: Was will mir dieser autobiografische Essay sagen? Eine Antwort habe ich bisher nicht gefunden und vielleicht bleibt es auch einfach dabei. 

Worum geht’s?

Im Kern geht es um das Erwachsenwerden. Raus aus dem bürgerlichen Mittelstand der westdeutschen Provinz, rein in die minimalistische teure Altbauwohnung. Wohnung, Straße und Stadt wechseln, die Herkunft bleibt. Garniert wird diese mit jeder Menge Selbsthass, der zynischen Betrachtung des Freundeskreises und des gesamten sozialen Umfelds.

Ein sprachlicher Genuss 

Ich mag Sophie Passmann ganz wahnsinnig gern und bin Fangirl der ersten Stunde, lese ihre Kolumne sehr gern und empfinde sie als kritisch, provokant und gleichzeitig unterhaltend. Dass sie eine furiose und fantastische Schreiberin ist, muss, glaube ich, gar nicht mehr gesagt werden. Wer es noch nicht weiß, sollte unbedingt sämtliche Kolumnen nachträglich lesen. Ihre Schreibkunst stellt Sie auch in “Komplett Gänsehaut” wieder eindrücklich unter Beweis, für 170 Seiten fehlt mir dann aber doch ein wenig Gehalt, der Schritt weiter. Sie reißt viele Fragen auf und benennt Missstände in unserer Gesellschaft, belässt es jedoch dabei. Ich hatte daher das Gefühl, einen langen Hassmonolog zu lesen, der an allen Ecken und Enden mit einer ordentlichen Portion Zynismus Fragen aufwirft, aber an keiner Stelle Impulse zur Beantwortung gibt. Für mich bleibt all die Wut und damit auch das Buch leider im luftleeren Raum hängen und bringt mich direkt wieder zurück zu meiner Eingangsfrage: Was will mir dieser autobiografische Essay sagen? 

Ja, auch ich sitze in diesen Weinbars

Nicht jedes Buch muss zum Weiterdenken anregen oder einen Schritt weiter gehen und kann trotzdem unterhalten. So ging es mir bei “Komplett Gänsehaut”: Bei der Schilderung einer durchgestylten Weinbar mit ausschließlich reichen, jungen und fancy Gästen hab ich mich schon sehr ertappt gefühlt und musste hier – und auch in anderen Passagen – schmunzeln.

“Mit einer Mischung aus es war nicht alles schlecht und so einer volltätowierten Barista-Mentalität wird Wein jetzt zu einem Hobby für dynamische Endzwanziger, die mit ihren Freunden gern auch mal einen Fenchel in den Ofen schmeißen und dazu einen guten Vino trinken. (...) Bei Weinproben darf heute gelacht werden. (...) Der generische Weinkerl in dem generischen Weinladen hat einen Schnauzbart, eine Schürze aus handgewebtem böhmischem Stoff, Manufactum, und immer einen guten Spruch auf den Lippen (...)”
Sophie Passmann in “Komplett Gänsehaut”, S. 106 ff. 

Alles in allem war “Komplett Gänsehaut” unterhaltend und schnell zu lesen, aber meine Erwartungshaltung war vermutlich einfach eine andere (politischere?), die diesmal leider nicht erfüllt wurde.

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle Millennials, die in privilegierten Altbauwohnungen in gentrifizierten Straßen leben – seid ihr so? Falls ja, lest dieses Buch und es hält euch evtl. den Spiegel vor?
  • Alle, die auf einen kurzweiligen, pointierten und wahnsinnig eloquenten Schreibstil stehen, denn sprachlich ist Sophie Passmann einfach immer ein Genuss.

Und bei mir so?

Ich bleibe einfach bei Kolumne, Twitter und Podcast, denn hier finde ich persönlich Sophie Passmann am stärksten. Im Buchformat haben wir diesmal leider nicht so ganz zueinanderfinden können.

Infos zum Buch im Überblick

Danke an Kiepenheuer&Witsch für das Rezensionsexemplar an dieser Stelle!