Lena Müllers Debütroman “Restlöcher” ist eine leise Liebesgeschichte, eine Reise in die Vergangenheit und gleichzeitig eine Geschichte des Aufbruchs und der Befreiung. In diesen schlanken 124 Seiten steckt einiges drin: Sehnsüchte, Bewältigung und jede Menge Poesie. 

“Restlöcher” mit seinem schönen Cover sprang mir auf Instagram entgegen, als es frisch aus dem Druck bei der Edition Nautilus ankam und das erste Mal ausgepackt wurde. Als Erstes war dort also die Cover-Liebe, dann eine fixe Recherche zu Autorin und Pressetext und es war klar: Klingt nach meinem Buch! Ich wusste bereits, dass Lena Müller mehrfach für ihre Übersetzungen aus dem Französischen ausgezeichnet wurde, hatte allerdings noch keinen ihrer Texte gelesen. Ich bin daher also ganz frei und ohne bestimmte sprachliche oder auch stilistische Erwartungen an die Lektüre ran gegangen und habe “Restlöcher” in einem Zug (in Ermangelung eines treffenderen Wortes) “weggeatmet”. 

Von Einsamkeit und Suche

Wir lernen Sando kennen. Sando, der den Fuchs liebt, einen scheuen jungen Mann, der sich nicht fangen oder gar zähmen lässt. Er schleicht sich recht unvermittelt und klammheimlich in Sandos leben, bis die beiden eine Wohnung und eine Matratze teilen, nur um wieder ins Nichts zu verschwinden. Doch Sando hat gelernt, dass sich die Liebe ebenso wie der Fuchs selbst nicht zurückholen oder einfangen lässt, es bleibt nichts anderes als zu abzuwarten, ob eine Liebe zurückkommt. Das hat er schon früh verstanden, als seine Mutter Clara ihr bürgerliches Leben mit Dieter und zeitweise auch Sando verließ, um ihren Traum vom Studium zu verwirklichen. 

Lena Müller beschreibt diese Nähe und gleichzeitige Ferne zwischen Sando und dem Fuchs so leise und zart, entfaltet sie innerhalb weniger Passagen in diesem schmalen Band. Sandos Einsamkeit und Verletzlichkeit wird fast physisch erlebbar. Spätestens im Gespräch mit seiner Schwester Mili ist spürbar, wie einsam und suchend Sando ist: 

“Du lachst, aber es ist ernst. Ich ziehe Einsamkeiten an, sie springen mich von überall her an. Mein Nachbar von gegenüber zum Beispiel. Seine Einsamkeit weckt mich nachts, obwohl es bestimmt zwanzig Meter Luftlinie sind, zwischen seinem Fenster und meinem Fenster. Ehrlich. Ich liege in meinem Bett und bin geblendet, obwohl meine Augen geschlossen sind. Er sitzt in seinem Sessel vor diesen nackten Wänden … Er raubt mir den Schlaf.”
Lena Müller in “Restlöcher”, S. 39

Sando wartet auf den nicht greifbaren Fuchs und sucht zugleich seine Mutter Clara, denn Clara hat Dieter erneut verlassen. 

Eine Suche in der Vergangenheit

Sandos Suche führt uns in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, in der Clara mit ihm und seiner Schwester Mili nach West-Berlin ging, um zu studieren und ihre Träume wahr zu machen. Eine Flucht aus dem bürgerlichen Leben, dem Leben als Mutter und Hausfrau. Sando und Mili wachsen auf im Studentendorf in Schlachtensee zwischen Gemeinschaftsbad- und Küche in einer Welt junger Erwachsener. Lena Müller zeichnet ein warmes und gefühlvolles Bild einer sorgenden Gemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die bei Rotwein und Zigaretten über die Welt philosophiert, Burgen aus Pappe baut, um sich dort vor der Volkszählung zu verschanzen und Clara auffängt und unterstützt in diesem neuen Leben. 

Dieter, der alle zwei Wochen zu Besuch kommt, wird zum Fremdkörper, vermag nicht in das neue Leben seiner Frau zu passen. Welten prallen aufeinander. Dieters geordnete Welt der Kleinfamilie und Claras Welt. Die Welt einer starken Frau, die für ihre Ziele und Visionen einsteht und hierfür erst aus der gemeinsamen Welt ausbrechen musste. 

“Sie merkt, dass es längst auf etwas hinausläuft: Wenn man angekündigt hat zu gehen, ist man schon unterwegs. Es gibt ihn nicht, den Zeitpunkt, wo es noch in der Schwebe ist, wie bei einer Wippe, bei der man noch nicht weiß, wohin sie kippt, immer gibt es schon einen Überhang auf die eine oder auf die andere Seite.”
Lena Müller in “Restlöcher”, S. 86 f.

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die glauben, dass Kinder zwangsläufig in einer klassischen Kleinfamilie aufwachsen müssen.
  • Alle, die ein bisschen besser verstehen möchten, welche Hürden Frauen und Mütter nehmen mussten und müssen, um ihre Ziele zu erreichen. Und auch alle, die verstehen möchten, dass das einmalige Nehmen dieser Hürden nicht unbedingt dauerhaften Bestand haben muss.
  • Alle, die auf der Suche nach einer leisen Geschichte sind, die zu keiner Zeit laut werden muss, um die Emotionen und Bedürfnisse ihrer Protagonist:innen zu transportieren. 

Und bei mir so?

Ich habe “Restlöcher” sehr gemocht, sowohl stilistisch wie auch inhaltlich. Auch die überschaubare Länge fand ich perfekt, da Lena Müller es mit ihrem pointierten und treffsicheren Stil schafft, alles zu transportieren, was es für diese Geschichte braucht, ohne den Text zu überladen. Das heißt natürlich nicht, dass ich nicht unbedingt mehr von ihr lesen möchte – das möchte ich ganz unbedingt und hoffe sehr, dass “Restlöcher” nicht ihr letzter Roman bleiben wird.

Erwartet habe ich eine queere Liebesgeschichte, eine Geschichte der Sehnsucht und des gemeinsamen Abwägens von Nähe und Distanz. Bekommen habe ich genau das, aber auch eine unerwartete Zugabe: Die Geschichte einer Frau und Mutter, die in einer Zeit, geprägt von Kleinfamilie und Vorgarten, genau aus dieser ausbricht und sich selbst findet. 

Infos zum Buch im Überblick

  • Edition Nautilus
  • Gebunden mit Schutzumschlag, 128 Seiten
  • ISBN: 978-3-96054-249-0
  • März 2021

Danke an die Edition Nautilus an dieser Stelle für das Rezensionsexemplar!