Ada bewegt sich in Schleifen durch die Zeit, denn sie ist nicht eine Frau, sondern viele Frauen. Vier von diesen Frauen lernen wir in unterschiedlichen Phasen der Weltgeschichte kennen. Und auch wenn diese vier Frauen zeitlich weit voneinander entfernt gelebt haben, so sind sie doch miteinander verbunden durch Erlebtes, Erfahrenes und ein Armband, das Ada durch den Lauf der Zeit begleitet. Erzählt wird all dies von Besen, Türklopfern, Reisepässen oder auch einem ganzen Raum.

„Adas Raum” ist eines dieser Bücher, das ich mir beim Schmökern in den Verlagsvorschauen direkt angestrichen hab – mehrfach! Neben der auffallenden Covergestaltung hat auch sonst alles an diesem ersten Einblick geschrien: “Achtung, Anne, da rollt was auf dich zu, das du ganz besonders lieben könntest!” Und was soll ich sagen? Exakt das ist eingetreten. Der Debütroman der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo hat mich von Seite eins an in seinen Bann gezogen, denn er ist literarisch und sprachlich aufregend, sprengt Grenzen und traut uns als Leser:innen viel Assoziationsvermögen und Aufmerksamkeit zu. Spätestens das ist immer ein Grund zur Euphorie für mich: Liebe Autor:innen und Verlagsmenschen, traut uns gerne regelmäßig ganz viel Mit-, Nach- und Weiterdenken zu, denn da fängt der Spaß dann erst richtig an, wie ich finde.

1459 bis 2019 – Adas Räume

1459 treffen wir Ada an der westafrikanischen Küste, wo sie ihren Sohn betrauert. Sie und ihr Bruder wurden im Kindesalter verschleppt. Ada lebt seit diesem Vorfall in einer neuen Dorfgemeinschaft, in die sie sich nie zur Gänze eingefunden hat. Umgeben von Greisinnen, die sich ihrer angenommen haben und zu ihren Müttern wurden, ist sie nun mitten in der Trauer um ihr zweites Kind als portugiesische Kolonialisten anlanden. 

1848 treffen wir Lady Ada in London, wo sie als hochbegabte Mathematikerin an der Seite eines wohlhabenden adeligen Mannes lebt und eine Affäre mit Charles Dickens hat. Ihre wissenschaftliche Begabung wird nicht ernst genommen, im Gegenteil, sie wird von den Männern in ihrem Leben regelmäßig zurückgewiesen, wenn sie ihre mathematischen Theorien erläutert und bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück. 

1945 treffen wir Ada im Konzentrationslager Mittelbau-Dora, wo sie als Zwangsprostituierte in Baracke 37 lebt und ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert ist. Wir lernen die Ada kennen, die Seele und Körper voneinander trennt, diese Spaltung vollzieht, um den Missbrauch, der ihr widerfährt, ertragen zu können.

2019 treffen wir Ada in Berlin als hochschwangere schwarze Frau mit britischem Pass auf der Suche nach einer Wohnung. Die Erwartung ihrer gesamten Familie, die sie in Ghana zurückgelassen hat, lastet auf ihr, seit sie mit ihrem britischen Pass nach Berlin gereist ist. Untergekommen ist sie dort auf dem Sofa ihrer Halbschwester. Auf der immer verzweifelteren Suche nach einer Wohnung für sich und das ungeborene Kind erlebt sie, was es heißt, in einem Land voller Vorurteile, Rassismus und zu wenig Wohnraum als schwarze Frau auf der Suche nach einer neuen Bleibe zu sein. 

Zur gleichen Zeit – der Geist der Welt

Und dann gibt es dort, die Zeiten überdauernd, dieses “Wesen”, das sich für mich wie der Geist der Welt anfühlte. Er kommt daher als Brise im Streitgespräch mit Gott, möchte unbedingt als Mensch geboren werden und befindet sich auf einem langen Weg dorthin, indem er Aufgaben in Adas Leben, erledigt und Situationen lenkt – soweit dies mit seiner jeweiligen Form möglich ist. 

1459 treffen wir den Geist der Welt als Reisigbesen, mit dem Ada körperlich gezüchtigt wird. 

1848 treffen wir den Geist der Welt als Türklopfer, der Ada vor Besuchen des Ehemanns warnt.

1945 treffen wir den Geist der Welt als Adas Raum in Baracke 37.

2019 treffen wir den Geist der Welt als Adas britischen Reisepass zur Zeit der Wahl Boris Johnsons und somit des Brexits.

Und diese Gegenstände und Räume, sie erzählen Adas Geschichte, sie fühlen und fiebern mit, setzen in Relation und eröffnen neue Räume der Diskussion. Das ist erzähltechnisch nicht nur mutig, sondern auch brillant und fordernd. Denn die Wertung der Geschehnisse entfällt. Die Geschichte einer Frau über die Zeiten hinweg wird nicht von anderen Menschen erzählt und gewertet oder eingeordnet, sondern sie wird erzählt von Gegenständen, die zwar mitfühlen und versuchen zu lenken, aber dabei immer nur gute Absichten Ada gegenüber haben. Und genau das öffnet so wunderbar freie und große Räume des Weiterdenkens und Reflektierens.

Immer präsent – ein Armband 

All diese Handlungsebenen verknüpft Sharon Dodua Otoo miteinander. Sie bedingen sich, finden kurzzeitig zueinander, sind durch Handlungen und persönliche Eigenschaften miteinander verknüpft. Dies fordert den Leser:innen Konzentrations- und Assoziationsfähigkeit ab, wird von der Autorin jedoch perfekt geleitet durch ihren Stil und auch den übergreifenden Aufbau in Schleifen. Als “roter Faden” dient ein Armband, das in jedem Leben Adas eine Rolle spielt und zuletzt in einem Katalog zu einer Ausstellung kolonialer (Raub)Kunst im Berlin 2019 auftaucht.

Unterdrückung, Rassismus, Antisemitismus, Heimatlosigkeit, Kolonialismus, Kunstraub und Mansplaining an allen Ecken und Enden. In diesem Buch steckt so wahnsinnig viel drin, ohne jedoch überfrachtet zu sein, ich habe das Bedürfnis, direkt wieder von vorne zu beginnen und dieses sprachliche Feuerwerk noch mal zu durchleben.

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die eine (wie ich finde) ganz neue literarische Form kennenlernen möchten und darauf stehen, mit vielen Impulsen selbst weiter zu denken.
  • Alle, die die Rolle der Frau in unterschiedlichen Kontexten näher beleuchten und all die Gemeinsamkeiten und Parallelen über die Zeiten hinweg sehen möchten.
  • Alle, die sich mit Rassismus und Kolonialismus befassen oder damit anfangen möchten.

Und bei mir so?

Ganz simpel: Jahreshighlight erwartet, Jahreshighlight bekommen. Ich bin fasziniert und begeistert von so viel literarischer Frische und sprachlicher Finesse. Verstanden habe ich definitiv noch nicht alles und das ist auch völlig in Ordnung so. Dieses Buch beherbergt so viel, es braucht ein zweites und vielleicht auch drittes Lesen und hoffentlich viele Diskussionen und Gespräche, um es in Gänze zu durchdringen. 

Was ich als ganz persönlichen praktischen Impuls mitnehme: Mehr über den Kolonialismus lesen, meine Bildung ist da einfach zu dünn. Klarer Fall für mein nächstes Sachbuch des Monats.

Infos zum Buch im Überblick

  • Verlag: S. FISCHER
  • Erscheinungstermin: 24.02.2021
  • 320 Seiten
  • ISBN: 978-3-10-397315-0

An dieser Stelle vielen Dank für das Rezensionsexemplar an die S. Fischer Verlage!