Ein autobiografischer Roman, vielleicht sogar eher ein Erinnerungsband, der berührt, mitreißt und einen persönlichen und intimen Einblick in Geschichte und Herkunft der Autorin gibt. Zwischen sprachlichen Feinheiten, neuen Lebensumständen und der Entfremdung in der eigenen Familie beweist Lena Gorelik ganz nebenbei auch eines: Sie ist eine Künstlerin der Sprache.

320 Seiten, fast fünf Tage Lesezeit, ganz schön langsam für mich. Woran das liegt? Lena Gorelik hat mich berührt und aufgewühlt. Viele Passagen las ich mehrmals, andere las ich laut vor, um kein Detail und keine Feinheit zu verpassen und jede Silbe dieses Textes wirken zu lassen. Ihr Sinn für die Worte, ihre Auseinandersetzung mit dem Leben zwischen zwei Sprachen und nicht zuletzt ihr ehrlicher und mutiger Blick auf die eigenen Geschichte und Familie haben mich schlicht umgehauen.

23.55 Uhr, 2. Mai 1992

Es ist 23.55 Uhr am 02. Mai 1992, als die 11-jährige Lena Gorelik mit ihrer Familie Russland verlässt. Sie reisen als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland aus und hoffen für die Kinder auf eine bessere Zukunft im Westen. Dieses Datum, eine Zensur im Leben der gesamten Familie.

Am Rande einer schwäbischen Stadt lebt die gesamte Familie in einem Asylantenheim (wie es damals noch hieß), kämpft mit dem Verlust der Sprache, der Heimat und der beruflichen Qualifikation. Isoliert von der Gesellschaft, wohnhaft in einer Holzbaracke, ruhen alle Hoffnungen auf Lena, denn sie soll es besser haben. 

Lena Gorelik schreitet in ihrer Erzählung nicht linear voran, sondern legt unterschiedliche Erinnerungen, Szenen und Anekdoten übereinander, betrachtet die Beziehung zu den eigenen Eltern und der Großmutter. Als erwachsene Frau, die zu den eigenen Kindern. Für die möchte auch sie alles besser und anders machen wie einst die eigenen Eltern. 

Über die Zeiten hinweg schwebt als verbindendes Element eines über allem: die Scham.

"Was übrig bleibt, ist Scham. 
Ich schaffe ein eigenes Wort dafür: mögenswert.
Ich bin nicht mögenswert. Ich kann genug Deutsch, um diesen Satz zu bilden."
Lena Gorelik in "Wer wir sind", S. 145

Diese Scham, sie zieht sich durch das gesamte Buch in unterschiedlichen Intensitäten. Die Scham über die eigene Herkunft, die ärmliche Unterkunft, das russische Essen. Die Scham, eine Streberin zu sein. Die Scham, nirgendwo so ganz zu passen und falsch zu sein. Und nicht zuletzt die Scham dafür, diese Scham zu empfinden.

Zwischen Erinnerung und Reflexion

Dieses Buch, es beinhaltet soviel, es zeichnet ein so eindrückliches Gefühl der Fremdheit in einer neuen Umgebung und später der Fremdheit den eigenen Eltern gegenüber, die innerhalb kürzester Zeit von ihren Kindern überholt und abgehängt werden. Gleichzeitig ist es nicht mehr und nicht weniger als eine Erinnerung und große Liebeserklärung an die Menschen in ihrem Leben.

Doch was ist Erinnerung? Wann trügt Erinnerung? Mit welchem Recht schreibt sie die Geschichte der ganzen Familie auf? Diese und noch viel mehr Fragen verhandelt Lena Gorelik intensiv und pointiert und hat mir Tränen in den Augenwinkeln beschert. Tränen der Rührung beim Blick auf die gemeinsamen Schachpartien mit dem Vater. Tränen des Schmunzelns beim Blick auf die Eigenarten der Deutschen. Umarmt wurden all diese Emotionen von schlicht sprachlicher Schönheit. 

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die auf großartige Sprache und deren Betrachtung stehen.
  • Alle, die ein bisschen besser verstehen wollen, warum man eine Heimat nicht gegen eine neue austauschen kann. 
  • Alle, die eine berührende Aufzeichnung über die Beziehung zu den eigenen Eltern innerhalb einer Familie zwischen zwei Kulturen lesen möchten.

Und bei mir so?

Ich glaube, es ist ja schon recht deutlich geworden, dass ich „Wer wir sind“ geliebt habe. Es ist schon jetzt ein Herzensbuch und wird bleiben. Lena Gorelik schaut so klug, pointiert und reflektiert auf sich und die Welt, ich hätte noch ein Paar hundert Seiten mehr von ihr lesen können. 

Infos zum Buch im Überblick 

Danke an Rowohlt Berlin für das Rezensionsexemplar!