Die Anthropologin Nastassja Martin wird während einer Expedition auf der Insel Kamtschatka von einem Bären in den Kopf gebissen und überlebt schwer verletzt. In „An das Wilde glauben”, nimmt sie uns mit auf die Reise ihrer Genesung und lässt uns Teilhaben an Kultur und Weltanschauung der Ewenen, dem indigenen Volk, mit dem sie über lange Perioden zusammenlebt und in deren Leben sie tief eintaucht.

Ich hab dieses wunderbare Buch erst Ende letzter Woche das erste Mal auf Instagram gesehen und wusste direkt, dass ich es unbedingt und so schnell wie möglich lesen muss. Die Story war einfach zu unglaublich (ich meine, eine Frau wird von einem Bären in den Kopf gebissen?!), das Cover zu hinreißend und Matthes & Seitz Berlin verlegt so oder so mit einer unglaublichen Trefferquote meine Lieblingsbücher. Außerdem stand auch noch der Indiebookday an: Noch ein Grund mehr, den SUB munter weiter zu füttern. “An das Wilde glauben” lag exakt drei Stunden ganz oben drauf, bevor ich es mir geschnappt und fast in einem Rutsch gelesen hab. Kleiner Spoiler an dieser Stelle: Ich bin hoffnungslos verliebt. 

Der Kuss des Bären

Die reine Handlung dieser schlanken 139 Seiten ist recht schnell zusammengefasst: Wir begleiten die Autorin auf ihrem Weg der Genesung nach ihrem Kampf mit dem Bären, der über ein russisches Klinikum über Frankreich zurück in die Wildnis führt. Abgesehen von der absoluten Unglaublichkeit der Kerngeschichte – wie muss ich mir einen Kampf zwischen Mensch und Bär vorstellen – gibt die Erzählung spannende Einblicke in Kultur und Leben der Ewenen. Nastassja Martin hat über lange Phasen im Rahmen ihrer anthropologischen Studien mit diesem indigenen Volk zusammengelebt und wurde von ihnen teilweise aufgenommen wie ein Familienmitglied. Sie beginnt intensiv zu träumen, sich mit dem Verhältnis des unterschiedlichen Lebens der Erde zueinander auseinanderzusetzen und taucht ein in eine spirituelle und so ganz und gar nicht-westliche Sicht auf die Dinge. So begreift sie die Begegnung mit dem Bären keineswegs als einseitigen Angriff eines Raubtieres:

“Ich habe mich im Gegenteil in den Kampf gestürzt wie eine Furie und wir haben unsere Körper jeweils mit dem Mal des anderen gezeichnet. Ich kann es mir schwer erklären, aber ich weiß, dass dieses Begegnung vorbereitet war. Ich habe seit langem alle nötigen Weichen gestellt, um mich ins Maul des Bären zu führen, seinem Kuss entgegen. Und ich sage mir: Wer weiß, er vielleicht auch.”
Nastassja Martin in “An das Wilde glauben”, S. 77

Zwischen Wissenschaftlichkeit und Selbstbefragung

Was “An das Wilde glauben” aus meiner Sicht einzigartig und brillant macht, ist die Zwiegespaltenheit der Autorin. Sie vermag beide Rollen, nämlich die der Wissenschaftlerin und die der verwundeten Frau auf einer Reise der Reflexion sprachlich perfekt abzubilden.

Mit wissenschaftlicher Distanz geht sie auf die Bräuche der Ewenen an, erklärt deren Leben und Handeln und bewertet ihre eigene Expedition, während sie gleichzeitig alles um sich herum so klug und aufmerksam beobachtet und uns mit ihrer so wahnsinnig poetischen und atmosphärischen Erzählart daran teilhaben lässt.

Diese Momente, in denen sie sinniert über die Weltanschauung der Ewenen, sie sind so voller Poesie und Schönheit, man möchte als Leser:in schlicht den gesamten Text von Anfang bis Ende unterstreichen und fest in den Arm nehmen:

“Die Bäume, die Tiere, die Flüsse, jeder Teil der Welt behält alles, was wir tun, alles, was wir sagen und sogar manchmal was wir träumen und was wir denken. Deshalb müssen wir auf die Gedanken achten, die wir formulieren, denn die Welt vergisst nichts, und jedes der Elemente, aus denen sie besteht, sieht, hört, weiß. Was geschehen ist, was geschieht und was kommen wird.”
Nastassja Martin in “An das Wilde glauben”, S. 103

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die eine Erzählung der Gegensätze suchen: auf der einen Seite raue Brutalität, auf der anderen Seite so wahnsinnig poetisch und philosophisch. Inhaltlich wie sprachlich herausragend. 
  • Alle, die etwas für “Animismus” lernen möchten. 
  • Alle, die einen ganz besonderen Zugang zum Leben eines teilweise nomadisierenden indigenen Volks bekommen möchten, der so gänzlich fernab unseres westlichen Verständnisses der Dinge liegt.

Und bei mir so?

Ich glaube, man ahnt es vielleicht: Ich bin hingerissen von diesem Buch und es ist schon jetzt eines meiner Highlights 2021. Es ist ein Buch, das stets in Griffweite sein sollte, denn ich habe schon jetzt immer wieder Passagen nachgelesen, noch mal drin geblättert und die Impulse in aller Ruhe wirken lassen. 

Ein autobiografischer Bericht, der nachhallt, zum Nachdenken anregt und eine ganz besonderer Sprache findet für unser Verhältnis zur Erde und deren Leben.

Infos zum Buch im Überblick

Vielen Dank an Matthes & Seitz Berlin für das Rezensionsexemplar. Es ist schon jetzt ein ganz besonderes Buch für mich!