Lydia, Tochter eines chinesischen Einwanderers und eines „All-American Girls“, verschwindet in einer unscheinbaren Kleinstadt Ohios. Sie erscheint nicht zum Frühstück, bleibt spurlos verschwunden. Vom ersten Satz an ist klar: Lydia ist tot, nur noch nicht gefunden worden. Was wie ein Kriminalroman beginnt, entpuppt sich schon nach wenigen Seiten als erschütterndes Familiendrama und fein gezeichnete Gesellschaftskritik der USA der 70er Jahre.
Du bekommst ein Geschenk von mir? In mindestens 90% der Fälle wird es sich um ein Buch handeln. Dabei habe ich eine Regel, die ich fast immer einhalte: Verschenke keine Bücher, die du nicht selbst gelesen oder über die du dich nicht eingehend informiert hast. Ich möchte Menschen Bücher schenken, von denen ich denke, dass sie wirklich zu ihnen passen, sie überraschen oder begeistern. Das kann ich im Zweifelsfall dann doch nach der eigenen Lektüre am besten beurteilen.
Ein kleiner Exkurs zum Thema "Niemals unüberlegt Bücher verschenken": Du kannst andere Personen unbeabsichtigt triggern, wenn du dich nicht ausreichend informierst oder das Buch nicht selbst liest um es einzuordnen. Gerade bei sehr sensiblen Themen, hier Suizid einer Jugendlichen, lieber einmal mehr darüber nachdenken, ob der*die Beschenkte (ohne Vorwarnung) mit der Thematik konfrontiert werden sollte.
„Was ich euch nicht erzählte“ von Celeste Ng hat sich durch genau solch eine „Lieber doch schnell noch lesen, bevor ich es verschenke“-Situation in mein Bücherregal verirrt. Ich war auf der Suche nach einem Psychothriller, allerdings mit möglichst wenig Psycho. Einem Krimi, aber doch mit ein wenig mehr Emotion als Spannung und stieß dabei auf Celeste Ng. War nicht ganz sicher trotz aller Recherche und wollte doch wenigstens mal reinlesen. Und dabei hatte ich ein völlig anderes Leseerlebnis als erwartet – durch und durch im positiven Sinne:
Zerrissen von Erwartungen
„Lydia ist tot.“ – Direkt der erste Satz lässt für und, die Leser*innen keine Zweifel mehr offen: Lydias Schicksal ist nicht mehr zu ändern. Wer damit rechnet, die Geschichte der Aufklärung eines Mordes zu durchleben, wird schnell verwundert, vielleicht auch enttäuscht sein. Celeste Ng beleuchtet nicht das wie des Todes, sie nimmt uns nicht mit auf die Jagd eines Mörders, sondern sie fokussiert sich auf das „Wie“. Wie konnte Lydia sterben? Wie konnte es soweit kommen? Wir werden mitgenommen auf eine Reise in die Tiefen Lydias Familie.
Ihr Vater, der sich so unbedingt der amerikanischen Gesellschaft anpassen, in ihr unsichtbar werden will. Amerikanischer Pass, Universitäts-Professor für das klischee-amerikanischste aller Themen: Cowboys. Täglich ankämpfend gegen sein „anders sein“. Sein innigster Wunsch: Seine Tochter soll akzeptiert sein, viele Freunde haben, glücklich sein.
Auf der anderen Seite Lydias Mutter, eine klassische „tiger mum“. Ihre Tochter als Projektionsfläche ihrer eigenen verpassten Chancen und unerfüllter Träume. Ein abgebrochenen Medizinstudium und nur scheinbar vergessene Träume, die nun ihre Tochter, ihr Lieblings-Kind erfüllen muss. Ferienkurse, Physik-Projekte, Naturwissenschafts-Camps – Lydia soll Medizinerin mit Spitzenleistungen werden und das, obwohl ihr die Naturwissenschaften nicht besonders liegen.
Und Lydia?
Lydia schweigt. Sie versucht alle Bedürfnisse, die auf sie einprasseln, zu befriedigen. Fingiert Telefonate mit imaginären Freunden. Gaukelt innige Beziehungen zu den Mädchen vor, die sie täglich Alltagsrassismus erleben lassen. Die Mutter überschüttet Sie mit Büchern zur Anatomie, die auf das spätere Medizin-Studium vorbereiten sollen, lernt täglich mit ihr. Lydia schweigt.
Mittendrin Lydias Bruder, Vertrauter und einziger Gesprächspartner, doch im Schatten Lydias, dem Lieblings-Wunder-Kind, auf dem die gesamte Last der erfolgreichen, finalen Integration und der akademischen Karriere liegt. Er plant seine Flucht aus dem Elternhaus, wählt ein weit entferntes College. Lydia droht der Verlust ihres einzigen Vertrauten innerhalb der Familie.
Verlust und Zurückweisung
Der drohende Verlust des Bruders, schlechte schulische Leistungen, die Enttäuschung der Mutter – Lydias Situation spitzt sich zu. Sie verbringt mehr Zeit mit dem Sohn der Nachbarn, Jack, fühlt sich schnell von ihm zurück gewiesen. Währenddessen schweigt Lydia weiterhin. Verschweigt, dass sie in Physik nicht mithalten kann, Zweifel hat, ein Medizinstudium zu schaffen. Fingiert weiterhin Telefonate mit Freundinnen auf der Treppe, gut sichtbar, mitten im Haus. Bis zu dem Tag an dem sie zunächst spurlos verschwindet.
Wer sollte dieses Buch lesen?
- Alle, die ein wenig mehr verstehen möchten, wie kompliziert und sensibel Familienkonstrukte sein können.
- Alle, die darüber Lesen möchten, dass „das Beste wollen“ nicht immer zum Besten führt und einen fiktionalen Einblick in „tiger parenting“ bekommen möchten.
- Alle, die Einblicke erhalten möchten, welchen Druck das Bedürfnis nach vollständiger und vermeintlich „perfekter“ Integration aufbaut und wozu es führen kann.
Und bei mir so?
Ich kann nun sicher sein, das richtige Buch verschenkt zu haben an eine Krimi-Leserin, die aber auch gern Familienromane liest – eine perfekte Mischung.
Selbst bin ich nach wie vor durch und durch positiv überrascht – ich hatte mit der rasanten Aufklärung eines Verbrechens gerechnet und habe stattdessen eine sprachlich starke und sehr eindrücklich atmosphärische Bestandsaufnahme einer Familie bekommen. Ein Buch, das nahe geht und mich noch länger beschäftigt hat.
Infos zum Buch im Überblick
- dtv Literatur
- Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
- 288 Seiten, ISBN 978-3-423-14599-2
- 13. Oktober 2017
Kommentare von Anne