Suchen wir nicht alle nach unserem Platz im Leben? Manche finden ihn ganz schnell, andere brauchen ein bisschen länger. Bestimmt wechseln die meisten von uns diesen sagenumwobenen “Platz im Leben” auch immer mal wieder oder verrücken ihn ein wenig in die eine oder andere Richtung. Genau darum geht es im Debütroman “Du bist dran” von Mieze Medusa: Drei Protagonist:innen, die in ganz unterschiedlichen Lebensphasen den Platz im Leben suchen.
Ich sage, wie es ist: Bei “The Masked Singer” bin ich immer für die Maske mit dem geringsten Gesangstalent und bei sportlichen Großevents kann es gern mal passieren, dass ich mit dem größten Underdog der Geschichte mitfiebere, als ginge es um mein Leben. Dazu passen dann wohl Geschichten von Außenseiter:innen, wie Mieze Medusa sie geschrieben hat. Völlig klar also, dass ich “Du bist dran” lesen musste. Woher mein Faible für Underdogs kommt und warum ihr alle unbedingt “The Masked Singer” schauen solltet, besprechen wir an anderer Stelle. Jetzt gehts erst mal rein ins Buch!
Zwischen Wien, If-else-Schleifen und jeder Menge Wald
Mieze Medusa zeichnet uns drei mehr oder weniger liebenswerte Figuren, die alle mitten drin stecken in der Suche nach dem Platz im Leben. Sie sind an ganz unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben, haben aber eines gemeinsam: Ihre Rolle ist die der “Außenseiter”, dabei wollen sie doch alle auf ihre Weise dazu gehören zum großen Ganzen.
Da ist Agnesa, die mit 18 Jahren das älteste Kind einer Patchwork-Familie ist. Sie wohnt mit ihrer Großmutter, ihrer Mutter, deren Freund Nikos und den zwei Halbgeschwistern Eleni und Dimitris in Wien. Schnell wird klar, ihr Leben spielt sich nicht in einem gleichaltrigen Freundeskreis ab, sie ist nicht mitten in der Zukunftsplanung wie viele andere 18-Jährige. Viel mehr ist ihr Leben eng an die eigene Familie und deren Handlungsraum geknüpft.Sie bewegt sich zwischen zu kleiner Wohnung, in der sie sich ein Zimmer mit der Großmutter teilt, der Mutterrolle für die beiden Zwillinge, die ihre Mutter mit Nikos bekommen hat, und dem griechischen Familienrestaurant “Poseidon”, wo sie nicht nur als Servicekraft zwischen Küche und Gästen, sondern auch in der Buchhaltung arbeitet. Schnell wird klar, sie ist essenzieller Teil der Familie, ist viel mehr Mutter als Tochter und wird dennoch nicht gesehen. Trotz dieser scheinbar engen Verbindung ist sie die Außenseiterin der Familie. Nikos macht keinen Hehl daraus, dass er Wohnung und Leben nun endlich exklusiv mit “seiner Familie” teilen möchte, während Agnesa um die Anerkennung der Mutter kämpft, jedoch nicht zu ihr durchdringt:
“Ich habe mich so gesehnt nach etwas, das Mamas Stahlbetonhaut durchdringt. Aber wer weiß schon, wie das funktioniert mit dem Einreißen von Mauern.”
Mieze Medusa in “Du bist dran”, S. 13
Die verunsicherte und verlorene Agnesa begibt sich auf ihren ganz eigenen Weg zum selbstständigen Leben und lässt dafür nicht nur Wien zurück.
Dann gibt es da noch Eduard, einen verunsicherten und nerdigen IT-Sicherheits-Experten, der sich umgibt mit einem schillernden und karriereversessenen Freund und immer in dessen Schatten steht. Wir lernen Eduard kennen, als er auf einer Fachkonferenz Bianca trifft. Die beiden verfolgen gleiche Interessen, erscheinen wie gemacht füreinander. Mieze Medusa nimmt uns mit in Eduard Innerstes, als er in If-else-Schleifen durchspielt, wie er Bianca auf einen Kaffee einladen könnte. Als Leserin war ich geneigt, mit Eduard, der sich in einer nerdigen Außenseitergruppe fernab vom Mainstream bewegt, mitzufiebern, ihm Mut zusprechen zu wollen auf dem Weg zu mehr sozialer Interaktion. Was zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war: Eduard nutzt sein Talent als Hacker dafür, seinen Vater zu überwachen und über Webcam und Co in die Privatsphäre seiner Ex-Freundinnen einzudringen. Er nennt diese Gruppe von Menschen, die er schamlos ausspioniert und sogar soweit geht, über ihre Amazon-Konten demütigende Bestellungen füreinander aufzugeben, zynisch “seinen Zoo”. Gestoppt wird er erst, als sein eigener Rechner gehackt wird und er sich auf die Suche nach der Sicherheitslücke begibt.
Als Dritte im Bunde treffen wir die 69-jährige Felicitas, die mit ihrem Partner Hermann in der österreichischen Provinz lebt. Sie ist glühende Feministin und vielleicht auch gerade deswegen Außenseiterin auf dem Lande. In Rückblenden erfahren wir, dass sie den Großteil ihres Lebens in einer großen und politischen WG in Wien gelebt hat und die Stadt erst mit dem Kennenlernen Hermanns gegen das Landleben eingetauscht hat. So ganz vermag sie nicht reinpassen in dieses ländliche Leben. Als eine ihrer alten Mitbewohnerinnen verstirbt, macht sie sich auf den Weg nach Wien und verliert sich in Ärger und Frust über vergangene Beziehungen, Illoyalität und nicht zuletzt dem Bedauern der Beziehung zu ihrer entfremdeten Tochter Lea, die in der Karibik lebt und nicht nur räumlich in einer ganz anderen Welt verortet ist.
Vom Finden unerwarteter Verbündeter
Was allen drei Protagonist:innen gemeinsam haben: Sie sind Außenseiter, wollen jedoch etwas an ihrer Situation ändern. Auf dieser Reise begleiten wir alle drei in kurzen Episoden, die sich zunächst nur am Rande streifen, bevor sie sich miteinander verweben und vereinigen. Allein scheitern alle drei auf ihre Weise (zumindest in Teilen). Als sie jedoch aufeinandertreffen und unerwartet neue Verbündete ineinander finden, wird klar: Zusammen können sie einiges mehr ändern und haben bei allen Unterschieden jede Menge gemeinsam, mit dem sie sich unterstützen können.
Mieze Medusa schreibt in knapper und pointierter Weise. Die kurzen, präzisen Sätze, die sie uns gibt, transportieren viel Emotion und lassen Raum für die Entfaltung dieser. Ich habe mitgefühlt, wäre gern selbst ins Geschehen eingestiegen, um dem ein oder anderen einen kleinen Schubs zu geben auf dem Weg zu mehr Selbstvertrauen und Akzeptanz. Es gibt Momente, die gehen so ans Herz, man möchte weinen. Doch immer zum genau richtigen Zeitpunkt streut die Autorin die nötige Prise Humor und Witz mit ein, sodass “Du bist dran” immer optimistisch und auch unterhaltsam bleibt. Sie zeichnet ihre Figuren voller Wärme und hat es mir sehr leicht gemacht, vorallem mit Agnesa mitzufühlen.
Ein kleines “Aber …“ (SPOILER!)
Und dennoch gibt es da ein “Aber” und das ist Eduard. Was ziemlich skurril und voller Witz beginnt, schlägt schnell um in ein bedrückendes und beklemmendes Szenario. Realistisch und gut recherchiert wird klar, dass er ein Stalker ist. Das ist erst mal kein Grund für ein “Aber”, sondern verleiht dem Buch durchaus eine weitere Ebene mit Tiefe. Was im Klappentext als eine “Begleiterscheinung” seiner Midlife-Crisis daherkommt, entpuppt sich als hoch problematisches und kriminelles Verhalten. Mein Problem beginnt dort, wo er hierfür nicht angemessen bestraft wird, sondern nach Enttarnung durch seinen Nerd-Stammtisch die Sache bei einem Bier regelt. Er dringt in die Privatsphäre seiner schutzlosen Opfer ein, überwacht sie und ist schlichtweg kriminell. Für meinen Geschmack hätte dieses Verhalten viel deutlicher als justiziabler Straftatbestand dargestellt werden müssen. So jedoch behält seine Kriminalität für mein Gefühl den Beigeschmack einer Bagatelle.
Wer sollte dieses Buch lesen?
- Alle, die noch immer ein Universalpasswort nutzen. Lest dieses Buch. Dieser Fauxpas passiert euch danach bestimmt nicht noch mal.
- Alle, die Geschichten über Außenseiter mögen und Teil davon sein möchten, wie unterschiedlich Menschen ihre Rolle im Leben neu gestalten.
- Alle, die gern in die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft lesen und erleben möchten.
Und bei mir so?
Ich habe “Du bist dran” mit der oben genannten Einschränkung, sehr gemocht. Das Buch hat einen ganz eigenen und besonderen Klang. Ich mag den Stil von Mieze Medusa sehr und er hat mich von Seite eins an gefesselt. Mir als Leserin wurde es leicht gemacht, direkt voll in die Geschichte einzutauchen und mit den sehr authentisch geschriebenen Figuren mitzufühlen, mitzuleiden und mich mitzufreuen. Mit seinen knapp 250 großzügig gesetzten Seiten ist es recht schnell gelesen und einfach perfekt für ein verregnetes Wochenende. Ein guter Mix von Leichtigkeit und Ernst, der Spaß macht und gleichzeitig zum Nachdenken anregt.
Zur Abrundung des verregneten Wochenendes empfehle ich natürlich “The Masked Singer”. 😉
Infos zum Buch im Überblick
- Verlag: Residenz Verlag
- Erscheinungstermin: 26.01.2021
- 256 Seiten
- ISBN: 9783701717293
Vielen Dank an den Residenz Verlag für das Rezensionsexemplar an dieser Stelle!
Kommentare von Anne