Aleksy hasst seine Mutter und das so sehr, dass es als Leser:in zunächst fast unerträglich ist. Ein gemeinsamer Sommer in Frankreich, über dem der nahende Tod der Mutter schwebt, soll aussöhnen und vergeben lassen. Diese Erzählung ist so gewaltig, intensiv und dicht, dass es beinahe unglaublich scheint, dass Tatiana Țîbuleac hierfür noch keine 200 Seiten braucht. Eine Wucht, die uns atemlos und voller Emotion zurücklässt.
Was für ein Buch! Aufmerksam bin ich darauf geworden weil es auf der diesjährigen Hotlist der Bücher des Jahres aus unabhängigen Verlagen steht und das völlig zu Recht. Erschienen ist es bei Schöffling & Co in der Übersetzung aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Ich habe über eine Woche an diesen knapp 200 Seiten gelesen, weil sie so intensiv und aufwühlend waren, dass ich immer nur ein paar Seiten lesen wollte, um sie wirken zu lassen und die ein oder andere Runde auf ihnen rumzudenken.
Als ich es dann vor ein paar Tagen ausgelesen hatte, war ich so aufgewühlt, es könnte gut sein, dass ich im gesamten letzten Drittel öfter mal die ein oder andere Träne vergossen habe. Und das nicht, weil das Buch so traurig oder niederschmetternd ist, im Gegenteil, es ist einfach nur ganz furchtbar intensiv.
Zwischen Hass und der Sehnsucht nach Liebe
Ich will euch hier gar keine Inhaltsangabe oder ähnliches schreiben, das gefährdet euer Lesevergnügen nur, denn Tatiana Țîbuleac entblättert kunstvoll – mal brutal, mal leise und zart – den Menschen Aleksy. Genau diese mosaikartige Erzählweise, die sie so meisterinnenhaft beherrscht, macht dieses Buch so brilliant.
Warum verabscheut er seine Mutter so sehr? Warum ist er in einem Programm für kriminelle Jugendliche? Und wann und wie fand dieser »Vorfall« statt, der der Ursprung aller Geschehnisse und Gefühle zu sein scheint? Auf den Spuren dieser Fragen fangen wir nach und nach an zu verstehen, warum Aleksy so hart über seine Mutter urteilt, sie ablehnt und ihr nicht weniger als den Tod wünscht.
Doch was passiert, wenn dieser Wunsch plötzlich Realität wird? Seine Mutter bittet ihn, den Sommer mit ihr in Frankreich zu verbringen. Sie hat eine tödliche Krebserkrankung und möchte dort sterben. Aleksy willigt ein und die beiden machen sich auf eine gemeinsame Suche nach Vergebung und vielleicht auch einem Neuanfang für diese letzte kurze Etappe.
Der Geruch des Marktes
Tatiana Țîbuleac beschreibt die gemeinsame Zeit so detailreich und intensiv, dass ich als Leserin das Gefühl hatte, mit Aleksy und seiner Mutter über den französischen Markt zu schlendern. Jeden Marktstand habe ich vor mir gesehen, jeden Verkäufer rufen hören und jedes Gewürz gerochen. Es hat mich schlicht beeindruckt, mit welchem Detailreichtum und welch kluger Beobachtung die Autorin ihre Handlungsorte zum Leben erweckt.
Nicht minder detailliert und komplex ausgestattet sind ihre Figuren, allen voran Aleksy, der erst um seine Kindheit betrogen wurde, um sich dann um seine sterbende Mutter zu kümmern, was jede Zeit für das Erwachsenwerden nimmt. Er muss erwachsen sein, nicht werden.
»Diese Frau - die ich während meiner gesamten Pubertät grundlos gehasst habe - hat in ein paar Wochen mehr für mich getan als alle Psychiater meines restlichen Lebens. Sie war das Pentagon, das mich ins Leben zurückgebracht und mir geholfen hat, all das zu vergessen, was vergessen werden musste.«
Tatiana Țîbuleac in »Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte«, S. 181
Was am Ende bleibt – die Reue, eine Heilung oder Versöhnung – das müsst ihr nach der Lektüre ganz für euch allein entscheiden.
Wer sollte dieses Buch lesen?
- Alle, die eine spezielle Mutter-Sohn-Beziehung ergründen möchten.
- Alle, die eine komplexe und berührende Erzählung suchen.
- Alle, die ein bisschen besser verstehen möchten, warum es so schwer sein kann zu verzeihen und sich wieder näher zu kommen.
Und bei mir so?
Ein tolles Buch – ich bin tief beeindruckt. Zum einen von diesem feinsinnigen, leisen und treffsicheren Umgang mit Sprache, zum anderen von dieser ungewöhnlichen Geschichte. Es ist schon lange nicht mehr passiert, dass ich solch einen ambivalenten Protagonisten kennengelernt habe, mit dem ich so intensiv mitfühlte und mithoffte. Die Dinge, die er nicht tat, haben mir am Ende schlicht das Herz gebrochen. Eine riesengroße Empfehlung. Lest dieses Buch.
Infos zum Buch im Überblick
- Erschienen bei Schöffling & Co
- Roman
- Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
- 192 Seiten. Gebunden. Lesebändchen
- ISBN: 978-3-89561-233-6
Vielen Dank an Schöffling & Co für das Rezensionsexemplar – was für ein besonderes Buch!
Kommentare von Anne