Johnny kommt aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Zurück in die Heimat, einem kleinen Ort in Connecticut. Als verdienter Veteran kann er es nicht abwarten, seine Eltern und seine Ehefrau Glory wieder in die Arme zu schließen. Doch schon auf der kurzen Taxifahrt vom Bahnhof zum Elternhaus wird im klar, dass die Idylle, die er sich in den Jahren der Abwesenheit ausgemalt hat, wohl mehr seiner Fantasie als der Realität entsprungen ist. Ann Petry hat bereits 1947 mit “Country Place“ ein erschütterndes und eindringliches Porträt der amerikanischen Provinz zur Nachkriegszeit erschaffen, das nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.

Ich liebe es, neue Stimmen in der Erstübersetzung zu entdecken und bin total begeistert, dass das Werk Ann Petrys nun bei Nagel & Kimche die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient. Los ging es im letzten Jahr mit “The Street”, nun liegt “Country Place” erstmalig in deutscher Übersetzung vor. So oder so ist es toll zu beobachten, wie Stimmen der afroamerikanischen Literatur gerade neu entdeckt, übersetzt und zugänglich gemacht werden. Ich denke da spontan an James Baldwin, Maya Angelou oder auch Audre Lorde, um weitere großartige Autor:innen in den Raum zu werfen. 

Zurück zu “Country Place” und Ann Petry! Der Verlag spricht von der “Entdeckung einer Legende”. Die Erwartungen waren vor der Lektüre also entsprechend hoch und so viel kann ich schon verraten: Sie wurden nicht enttäuscht. Es könnte sein, dass ich “The Street” schon bestellt hab, als ich bei “Country Place” erst auf Seite 50 war, weil ich mich direkt in Ann Petrys Stil verliebt habe. 

Lennox, ein Ort wie eine Seifenoper 

Die vermeintliche Idylle des beschaulichen Lennox in Neuengland wird innerhalb weniger Seiten durch Ann Petry entlarvt. Johnnys Fahrt mit dem örtlichen Taxifahrer, dem Wiesel, reicht aus, um die unangenehme Atmosphäre des Klatschs und Tratschs, der Sensationslust und der Boshaftigkeit sichtbar zu machen. 

So wurde die Kirche der irischen Katholiken direkt an die Bahngleise verdammt, der jüdische Anwalt hat nur Mandanten außerhalb des eigenen Ortes und ist in Lennox ein unwillkommener Bewohner, die portugiesischen und schwarzen Hausangestellten im Ort werden offen rassistisch angefeindet. Über allem schwebt wie ein unheilbringender Geier das Wiesel, das den neuesten Klatsch und Tratsch unter die Leute bringt. 

Ann Petry spannt ein dichtes Netzwerk von Einwohner:innen und Orten, wechselt in die Innensicht verschiedener Protagonist:innen und stattet all ihre Charaktere mit einer ebenso großen Präzision und Detailliertheit aus wie auch die Schauplätze der Handlung selbst. Die toxische Mischung aus Neid, Missgunst und der engen Moralvorstellung steigert sich schnell zu einem Sturm der menschlichen Emotionen und steuert auf eine finale Katastrophe zu. Auf dem Weg zum Finale werden wir als Leser:innen Zeug:innen menschlicher Abgründe und dem Fallen aller Masken. 

Die Rolle der Nicht-Weißen 

Spannend am Setting von “Country Place” ist, dass Ann Petry als schwarze Frau über Weiße schreibt und für den Ort ihrer Handlung ein vornehmlich weißes Dorf auswählt. Ein Tabubruch im Amerika der 40er-Jahre. Die eigene Herkunft Petrys, sie wuchs in einem kleinen Ort in Neuengland auf, deutet darauf hin, dass Lennox stark an den Ort ihrer eigenen Kindheit angelehnt ist, was die räumliche Wahl nicht nur politisch, sondern auch persönlich auflädt.

Während sich fast alle weißen Protagonist:innen in “Country Place” ihrer Missgunst, Habgier und Vorurteilen hingeben, sind das schwarze Hausmädchen und der portugiesische Gärtner die einzigen Figuren, die durchweg Integrität in Handeln und Moral beweisen. Es ist faszinierend, wie Petry diesen eigentlichen Randfiguren durch ihre präzise Sprache eine viel größer Rolle als auf den ersten Blick ersichtlich gibt und ihnen die Stimme verleiht, die ihnen in der Realität oftmals verwehrt bleibt. So handelt es sich keinesfalls um eine “Abwesenheit von Rasse”, die Petry zuweilen vorgeworfen wird. Vielmehr werden Motive und Narrative der weißen Bevölkerung aufgedeckt und die Integrität der nicht-weißen Charaktere umso mehr in den Fokus gestellt.

Ein rasantes Lesevergnügen, wie eine Naturgewalt 

Ann Petry lässt nicht nur Figuren sprechen, sondern die ganze Umgebung und das tut sie meisterinnenhaft. Die exakten und scharfsinnigen Beschreibungen der Umwelt hauchen ihrer Erzählung derart konkretes Leben ein, dass es scheint, als würde man selbst als Beteiligte:r mit von der Partie sein. 

Besonders hervorzuheben hier das Motiv des Sturms. Während ein (un-)menschlicher Sturm der Emotionen und Intrigen aufzieht, wird Lennox selbst von einem Unwetter heimgesucht. In dessen Verlauf werden Bäume entwurzelt, Dächer abgedeckt und den Protagonist:innen steht das Wasser mehr und mehr bis zum Hals. Eine klug konstruierte und atmosphärisch dichte Umarmung der gesamten Handlung, die uns zuverlässig atemlos bis zum großen Finale führt.  

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die mit Ann Petry eine bedeutende Stimme der afroamerikanischen Literatur der amerikanischen Nachkriegszeit entdecken möchten. 
  • Alle, die eine spannende Erzählung und eine Analyse gesellschaftlicher Missstände in einem lesen möchten.
  • Alle, die ein wenig besser verstehen möchten, wie erschreckend aktuell die Literatur der Nachkriegszeit noch heute ist. 

Und bei mir so?

Ich habe “Country Place” nicht nur wahnsinnig gern gelesen, sondern mag Ann Petrys Sprache so sehr, dass ich mich direkt schon mit “The Street” ausgestattet habe und sehnsüchtig auf “The Narrows” warte, das 2022 ebenfalls bei Nagel & Kimche erscheinen wird. 

Es gibt hier viel Begeisterung für dieses Buch und die Überlegung, was man zur Autorin vielleicht so machen könnte auf Instagram und Co. Bisher habe ich “Country Place” überraschend selten gesehen. Das sollten wir ändern oder?

Infos zum Buch auf einen Blick

  • Übersetzung: Pieke Biermann 
  • Erscheinungsdatum: 17.05.2021
  • 304 Seiten
  • Hardcover m. Schutzumschlag
  • ISBN 978-3-312-01223-7

Danke an Nagel & Kimche für das Rezensionsexemplar!