Eine zwanzigjährige Frau wartet im Iran auf ihre Hinrichtung. Eingesperrt in einer Zelle, ohne den Himmel zu sehen, ohne Uhrzeit. Allein. Ihr Geständnis, die eigene Mutter getötet zu haben, ist umfassend und sie ist bereit, das Todesurteil zu akzeptieren. Isoliert in ihrer Zelle sinniert sie über ihre Kindheit und Jugend im Iran nach der islamischen Revolution. Über Freiheit und Unfreiheit, die Rolle des Vaters, ihr Verhältnis zu Mensch und Natur, den Wunsch nach Erlösung. Und das ist schlicht brillant. 

Zu diesem Buch könnte ich viele Einstiege schreiben, weil es mich direkt auf verschiedene Weise gereizt, fasziniert, gleichzeitig geängstigt und schließlich zu mir gefunden hat. Zunächst mal ging es schlicht an mir vorbei und ich frage mich, warum eigentlich? Allein das Cover ist ein Traum, die Edition Nautilus definitiv in meinen Top 3 der Indie-Verlage… Es hätte mir in den Vorschauen eigentlich entgegenspringen müssen.

Zum Glück gab es das Blogger:innen-Treffen der Edition Nautilus und des Verbrecher Verlags, wo Ava Farmehris »Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen« vorgestellt wurde. Es hat noch keine zwei Minuten Gespräch über dieses Buch gebraucht, um zu wissen, dass ich es definitiv lesen muss. 

Mir fällt spontan kein Buch ein, mit dem ich mich gedanklich schon so viel beschäftigt habe, bevor ich es überhaupt das erste Mal in der Hand hielt. Beim Warten auf die Post hatte ich fast schon ein bisschen Angst, mich in die Lektüre zu stürzen. Die Thematik ist zweifellos hart und nichts Leichtes für zwischendurch. Das sind die wenigsten Bücher, die ich lese, doch über eine zum Tode verurteile 20-Jährige in der Todeszelle zu lesen, jagte mir ordentliches Unbehagen und Respekt ein.

Hinzu kam, dass ich schon vorab und auch bei der Lektüre sehr viel an meinen verstorbenen Großvater denken musste, der einen großen Teil seines Berufslebens im Iran verbracht hat – vor und nach der islamischen Revolution. Wie schade, dass er das Buch nicht mehr lesen konnte oder wir uns darüber unterhalten konnten. Ich hätte gern gewusst, wie er darüber denkt. 

Viele von euch haben mir geschrieben, dass sie ein ähnliches Unwohlsein empfinden wie ich und das Buch bisher noch nicht gelesen haben, obwohl es sie reizt. Ich würde auf jeden Fall empfehlen, dass ihr euch schon mal ein echtes Wohlfühlbuch als Anschluss-Lektüre bereitlegt und dann wagt ihr euch an Farmehri ran! Denn auch wenn das alles ganz wahnsinnig düster klingt, vom Titel über den Klappentext bis zur Leseprobe, ist es ein literarisches Ereignis! Warum? Das erzähle ich euch jetzt!

Gefangen wie ein Vogel im Käfig

Sheyda Porroya ist zum Tode verurteilt. Unwiderruflich und endgültig. Aufgewachsen ist sie im Iran, nachdem sich der Schah ins Exil begeben hat. Ihre Mutter, einst jung und lebendig, die in Miniröcken und ohne Tschador in Diskotheken die Nächste durchtanzte, kennt sie nur aus Erzählungen. Sie kann das Bild dieser jungen, unabhängigen und wilden Frau nur schwerlich mit der Frau, die sie kennt und die schließlich die Erlösung im Tod findet, in Einklang bringen.

Sheyda selbst ist dieser wilden und ungestümen Frau wahrscheinlich gar nicht so unähnlich. Als Kind und Jugendliche rebelliert sie gegen ihren Käfig, erfährt Schläge durch den strengen Vater, uriniert in ihr Bett und findet Zuflucht in dieser feuchten Höhle, die sie sich so selbst erschafft. Das Vergraben in warmen und engen Höhlen, es ist ein Bild, das sich durch Farmehris Roman zieht. Doch all dieses Vergraben, die Lügen und die unrechten Bestrafungen, sie machen Sheyda zum Problemkind, bis sie schließlich in therapeutische Behandlung kommt.

Doch ist Sheyda »verrückt«? Ist sie tatsächlich gewalttätig, selbstzerstörerisch und eine diebische Lügnerin? Oder ist sie nicht viel mehr einfach falsch in dieser engen und eindimensionalen Umgebung, in die sie so gar nicht hineinzupassen vermag? Ich würde klar sagen, Letzteres. Ist es nicht sogar vielmehr bemerkenswert, dass ein Kind mit solcher Vehemenz dem Käfig, in dem es lebt, entfliegen will?

Das Mädchen der Vögel

Die Vögel, sie sind Sheydas Verbündete. Sie beobachtet und füttert sie, ist schließlich immer von Vögeln, diesen freien Tieren umgeben. Sie werden zum Bild Sheydas Seele, die sich nach nichts mehr sehnt als der Erlösung. Doch nicht nur die Vögel sind Sheydas Begleiter. Sie hat ein leises und intensives Verhältnis zur Natur, beobachtet und umhegt Rosen im Garten, die Bäume der Nachbarn. Und erneut stellt sich die Frage, kann ein so feinsinniges und sensibles Wesen gewalttätig sein gegen sich und andere? Und wenn ja, aus welchen Beweggründen?

Begleitet wird Sheyda in ihren 20 Lebensjahren von Verrat und Tod. Sie erlebt Suizide mit, verfällt einer verhängnisvollen Liebe und auch der Vater scheint nicht der aufrichtige Ehemann zu sein, wie es zunächst scheint. Zwischen all dem ist da das Verhältnis zur Mutter. Schwierig, teils eng und emotional, gar beschützend, teils abweisend, distanziert und verzweifelt. Die Mutter, die ein Schatten ihrer selbst ist, ist womöglich das Abbild der Zukunft Sheydas:

»Rustams [Anm. Sheydas Vater] Tod war für meine Mutter wie eine Wiedergeburt. Wir begannen uns immer ähnlicher zu sehen, und auch unser Verhalten glich sich an.«
Ava Farmehri in »Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen«, S. 185

Eine Sprachgewalt

Verpackt ist das alles in eine poetische, brachiale und dennoch sensibel bildhafte Sprache. Ava Farmehri zeichnet große detailreiche Bilder für uns, Bilder, die der Natur und der Spiritualität entspringen und große emotionale Welten eröffnen. Darstellen tun sie alle eines: den Wunsch nach Erlösung.

Dass wir an diesem literarischen Erlebnis teilhaben können, haben wir natürlich wie immer auch der Übersetzung zu verdanken! Die kommt von Sonja Finck, die Ava Farmehri, die unter einem Pseudonym schreibt, aus dem Englischen übersetzt hat. Beide waren gemeinsam auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreises – falls ihr noch ganz objektive Überzeugungsargumente braucht.

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die ein schlicht brillantes Buch mit atemberaubender Sprache (und ja, ich meine das genau so!) lesen möchten.
  • Alle, die auf richtig gute Naturbeschreibungen stehen. 
  • Alle, die einen Einblick in ein mögliches Leben im Iran bekommen möchten. 

Und bei mir so?

Es klang ja jetzt schon dezent an, ich sage es trotzdem noch mal: Dieser Roman ist ein Highlight für mich! Ich musste meine Gedanken jetzt eine Woche ordnen, habe noch nicht mal annähernd über fünf Prozent dessen, was alles in diesem Band steckt, geschrieben und würde sogar so weit gehen, zu fordern, dass dieses Buch in der Oberstufe zur Pflichtlektüre wird. Es ist inhaltlich fordernd und auch rein literarisch so unglaublich reich! Ich wünschte, ich hätte mich in meiner Schulzeit mit so neuen und gewaltigen Sprachbildern auseinandersetzen dürfen.

Solltet ihr euch ranwagen, empfehle ich euch einen Lese-Buddy, wenn ihr gemeinsames Lesen mögt. Dieses Buch möchte diskutiert, rumgetragen, angestrichen und einfach gründlich gelesen werden! Und das geht doch oft gemeinsam am besten oder? 

Infos zum Buch im Überblick

  • Verlag: Edition Nautilus
  • Übersetzung: Sonja Finck 
  • Deutsche Erstausgabe
  • Gebunden mit Schutzumschlag, Fadenheftung
  • 288 Seiten
  • Erschienen Oktober 2020
  • ISBN: 978-3-96054-234-6

Danke an die Edition Nautilus für das Rezensionsexemplar!