Amira möchte ein Kind. Josef ist sich nicht so sicher. Der Kinderwunsch dominiert und belastet ihre Beziehung mehr und mehr. Die beiden verbringen ein Wochenende in der abgelegenen Hütte von Josefs verstorbenen Vater in den österreichischen Bergen. Doch statt der gewünschten Harmonie und Klärung entwickelt sich ein zunächst subtiler Horror. Jessica Lind hat ein beeindruckendes Debüt geschrieben, das mich voll und ganz in den Bann gezogen hat.

Wisst ihr, was eine der besten Sachen ist am Buchblogger-Dasein? Dass man mit bisher unentdeckten (meist) Indie-Verlagen in Kontakt kommt und irgendwann können die Menschen dort sehr genau einschätzen, was mit dem Lesegeschmack matchen könnte. Denn wer kennt das Buch vor Veröffentlichung besser als Verlag und Autor:in? 

So ist es auch bei »Mama« gewesen, das mir von den netten Menschen bei »Kremayr & Scheriau« vorgeschlagen und sehr von mir geliebt wurde – innerlich wie äußerlich! Aber auch, wenn die Gestaltung der Wahnsinn ist und es mir in der Buchhandlung wahrscheinlich entgegengesprungen wäre, hätte ich es nicht unbedingt mitgenommen. Einfach, weil ich in diesem »Mama«-Game nicht drin bin. Zum Glück wurde ich davor bewahrt diesen Text zu verpassen. Dies ist also eine explizite Empfehlung auch für alle Nicht-Eltern.

Gefangen im Wald der Elternschaft

Was beginnt wie eine klassische Beziehungsbetrachtung, entwickelt sich schnell zu so viel mehr. Die Ausgangslage ist erst mal recht eindeutig: Die Beziehung von Amira und Josef leidet mehr und mehr unter dem ungleichen Kinderwunsch. Sex gibts pünktlich zum Eisprung, alles ist auf Reproduktion ausgerichtet. Amira möchte unbedingt mit ihren Freundinnen gleichziehen und dieses erwachsene Leben beginnen. Josef scheint hierbei mehr Hindernis als Hilfe zu sein. Sie betrachtet ihn immer stärker als den nicht zur Elternschaft bereiten schwierigen Partner.

Abhilfe schaffen soll ein Wochenende in den Bergen in der verlassenen Hütte von Josefs Familie. Dort kam sein Vater ums Leben. Amira hofft, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit Blockaden auf dem Weg zu Josefs Vaterschaft löst und das erwachsene Glück nun endlich beginnen kann. Selbst in dieser für Josef emotional schwierigen Umgebung kann Amira spätestens mit Näherkommen des Eisprungs ihren dominierenden Kinderwunsch nicht zurückstellen. Diese minutiöse Planung und Versessenheit, sie bildet einen krassen Kontrast zur Umgebung, die durch und durch natürlich ist. Die Dunkelheit und der dichte, finstere Wald dominieren die Szenerie. Diese Düsternis greift immer stärker auf Amira über, die vom Wald gefangen, von ihm eingesogen wird. Seltsame Ereignisse häufen sich. Amira vermag nicht mehr zu unterscheiden zwischen Realität und Illusion. Fast wirkt es, als wäre sie gefangen in einem dichten und dunklen Wald der kommenden Mutterschaft, der langsam Besitz von ihr ergreift und nicht plant, sie wieder freizulassen.

Die Raupe, der Parasit

Und plötzlich werden wir als Leser:innen überrascht von einem brachialen Cut. Amira und Josef sind wieder in der Hütte. Schwanger mit ihrer Tochter Luise, die Amira schon vor der Geburt vollständig vereinnahmt. Amira erkennt sich selbst nicht wieder, bewegt sich in einer Mutterschaft, die schon jetzt immer mehr zu bedrohlichem Horror, geprägt von Sorge und Panik, wird.

»Dann fängt Josef an, über ihre Zukunft zu reden. Über das Kind, das er Raupe nennt. Immer, wenn er das sagt, hat sie einen Parasiten vor Augen, der an ihr nagt und von ihr zehrt, bis er groß genug ist, sich zu verpuppen und aus ihr herauszubrechen wie aus einem Kokon.«
Jessica Lind »Mama«, S. 66

Doch ist Amira eigentlich schwanger oder ist sie nicht schon Mutter? Wo hat sie das Kind zur Welt gebracht und warum taucht am Waldrand immer wieder ein mysteriöser Jäger auf? Diese Mutterschaft ist sie Illusion oder echt? Braucht Luise sie so, wie sie selbst ihre Tochter braucht? Kann diese kleine Familie dem feindlichen und zugleich liebenden Wald jemals entkommen?

Zwischen Realität und Illusion

Diese Zeitsprünge, derer Jessica Lind sich bedient, habe ich geliebt. Zusammen mit dem Horror, der sich von Seite zu Seite entfaltet und diesen mutigen und zugleich selbstverständlichen Übergängen von Realem zu Fantastischem hat sie mich fast schon an japanische Autor:innen erinnert und einfach nur glücklich gemacht. 

Mit ihrer klaren und gleichzeitig detailreichen Sprache baut Jessica Lind eine ganz eigene atmosphärische Welt für uns auf, die mich eingezogen hat in einen einzigen von Spannung und Unbehagen geprägten Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Dieser Text hat einen ganz eigenen Sound, der mich schlicht beeindruckt hat und ich wünsche mir, in Zukunft noch viel mehr von Jessica Lind lesen zu dürfen.

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die es mögen, wenn die Grenze zwischen Illusion und Realität mit völliger Selbstverständlichkeit übertreten wird.
  • Alle, die eine sehr metaphorische und vielschichtige Auseinandersetzung mit Mutterschaft suchen.
  • Alle, die auf dichte und komplexe Erzählwelten stehen, die noch keine 200 Seiten brauchen, um sich mit voller Wucht zu entfalten.

Und bei mir so?

Für mich zählt »Mama« zu den bisherigen Highlights des Lesejahres und damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Es hat mich völlig kalt erwischt und in den Bann gezogen und ich habe mal wieder einen richtigen Indie-Schatz entdecken dürfen.

Es ist nicht nur inhaltlich ein Highlight, sondern optisch wohl eines der schönsten Bücher in meinem Regal. Die Illustration beschränkt sich übrigens nicht auf den fabelhaften Schutzumschlag. Aber das müsst ihr dann selbst beim Lesen entdecken. 😉

Infos zum Buch im Überblick

  • 192 Seiten, Format 12,0 x 20,0
  • Verlag: Kremayr & Scheriau 
  • Erschienen August 2021
  • ISBN: 978-3-218-01280-5

Vielen Dank an Kremayr & Scheriau und Jessica Lind für das Rezensionsexemplar!