Sasha ist schön, sie ist klug, sie ist eine junge Frau, die hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Denn ihre Möglichkeiten bewegen sich in einem engen Rahmen, nämlich dem Leben Lebens als Frau in den 50er- und 60er-Jahren. Dass die Perspektiven eines schönen Mädchens nicht besser sind als die eines weniger schönen, sondern lediglich anders, zeigt Alix Kates Shulman beeindruckend in diesem feministischen Klassiker.

Eine Erkenntnis dieser Lektüre ist (mal wieder), dass ich viel öfter im englischen Original lesen sollte. Damit ich solche wichtigen Texte wie den von Alix Kates Shulman, der bereits 1972 erschienen ist, nicht verpasse oder so lange darauf warten muss. Denn erst dieses Jahr hat sich der Arche-Verlag der Sache angenommen und die deutsche Erstübersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Kray herausgegeben. Zum Glück, das wurde wirklich Zeit!

Wenn ihr mir schon länger folgt, habt ihr bestimmt schon mitbekommen, dass der Arche-Verlag einer meiner liebsten Indie-Verlage ist – mindestens unter den Top 3! Und dabei habe ich ihn erst Anfang des Jahres entdeckt, war aber durch »Die Hauptsache« und »Drei Sommer« aus dem Frühjahrsprogramm direkt hin und weg. Also noch ein Grund mehr, mich auf »Erfahrungen eines schönen Mädchens« zu freuen. Und diese Vorfreude hat sich auf jeden Fall gelohnt. Aus dieser Lektüre lässt sich richtig viel ziehen und mitnehmen. 

Zwischen Perfektion und Grausamkeit

Wir lernen Sasha kennen, als sie sich als 24-Jährige in einer zerrütteten Ehe befindet. Sie war nach Spanien geflohen, um Freiheit und Unabhängigkeit zu erleben. Hatte sich dort den erstbesten Mann genommen, vagabundierte mit ihm durchs Land. Getrieben von Alkohol, Sex und jeder Menge Abhängigkeit statt der erhofften Freiheit. Nun zurück ins Eheleben. Ihr Mann Frank hatte klar kommuniziert, im Falle eines Betrugs trennt er sich. Doch er lässt Sasha nicht gehen, zu groß ist der Anspruch auf die Frau als Eigentum. Wir werden Zeuge, wie Frank seine Ehefrau vergewaltigt, sich nimmt, was ihm zusteht. Doch wie konnte es so weit kommen?

Das beleuchtet Alix Kates Shulman durch Rückblenden, die bis in Sashas früheste Kindheit zurückreichen. Sie ist außergewöhnlich schön. Zweifelt dennoch permanent an dieser Schönheit. Muss gefallen, darf es aber auch nicht zu sehr. Schließlich ist sie ein anständiges Mädchen, dass Jungs zu nichts auffordert und sie nicht in Versuchung führt. Schnell zeigt sich: Egal wie Sashas Vorsätze und Absichten aussehen, es läuft immer auf Übergriffe, Grausamkeiten und Besitzansprüche hinaus. 

Sei es in der dritten Klasse, als ihre Mitschüler ihr heimlich im Gebüsch die Hose runterziehen, um sie sich näher anzuschauen oder auch mit ihrem ersten Freund, der vehement und schließlich erfolgreich Sex von der 15-Jährigen einfordert. Und egal wie übergriffig und gewalttätig mit ihr umgegangen wird: Sasha bleibt zurück als unrein und wertlos, sie ist dabei in der Währung der Unschuld schon in der Jugend alles zu verlieren.

Anvertrauen kann sie sich niemandem. Die Scham der eigenen Familie gegenüber ist überwältigend. Freundinnen hat sie fast keine. Sie ist zu schön, um Freundinnen zu haben. Die Eifersucht nagt an ihren Mitschülerinnen, die alle danach streben, perfekt zu sein und diese Perfektion direkt vor ihnen nicht ertragen können. Sasha bekommt diese überbordenden Emotionen in all ihrer Härte zu spüren.

»Die Leute behaupten, es sei schlimmer, hässlich zu sein, aber ich glaube, es ist bloß anders. Sie machen dich zur Zielscheibe, ganz egal, ob du schön bist oder gewöhnlich bist. Bloß auf eine andere Art.«
Alix Kates Shulman in »Erfahrungen eines schönen Mädchens«, S. 61

All diese Dynamik, die sich in Kindheit und Jugend entfaltet, sie sorgt dafür, dass Sasha sich recht früh von ihrer Familie abnabelt und ihrer eigenen Wege geht. Stets getrieben von der Vergänglichkeit der Schönheit. 

Die Liebe zur Philosophie

Alix Kates Shulman zeichnet Sashas Leben als junge Erwachsene. Sie ist außergewöhnlich klug, entwickelt eine obsessive Begeisterung für Philosophie. Sie könnte alles in ihrem Leben erreichen, wäre der Zweck der Universität nicht primär einen geeigneten Ehemann zu finden. Und auch wenn sie es schafft, sich von diesem Narrativ zu lösen, so flüchtet sie sich in andere und reduziert den eigenen Wert final auf ihre Schönheit. Sie findet sich wieder in einer intensiven Affäre mit ihrem Professor, erlebt wilde Nächte, bevor sie in eine Ehe gerät. Und diese Ehe, sie nimmt ihr all das Wilde und Ungestüme und vor allem die Möglichkeit, ihre Ziele weiter zu verfolgen.

Es könnte der Eindruck entstehen, dass Alix Kates Shulman nicht viel Neues erzählt. Limitierte Möglichkeiten als Frau, oftmals noch immer die Ehe und Mutterschaft als finales Ziel, unbezahlte Care-Arbeit, im öffentlichen Raum nicht sicher sein, schön und gefällig sein müssen für Männer. Auch wenn sich seit den 50er-Jahren viel entwickelt hat, ist ein Großteil der Themen auch knapp 50 Jahre nach der Ersterscheinung von »Erfahrungen eines schönen Mädchens« erschreckend aktuell.

Wer sollte dieses Buch lesen?

  • Alle, die ein bisschen besser verstehen möchten, welche Hürden Frauen bereits überwunden haben, aber wie viele gleichzeitig über die Zeiten hinweg Bestand haben. 
  • Alle, die einen amerikanischen feministischen Klassiker lesen möchten. 
  • Alle, die verstehen möchten, was es bedeuten kann, schön zu sein. 

Und bei mir so?

Alix Kates Shulman hat ein erschreckend zeitloses Buch geschrieben, das ich sehr gern gelesen habe. Es hat mich bestürzt, wie viele Themen der heutigen Zeit auch vor 50 Jahren schon nahezu unverändert Thema im literarischen Diskurs und somit Alltag vieler waren. Ja, wir haben schon viel geschafft, aber nur weil Frauen mittlerweile nicht mehr jeden Wert durch außerehelichen Sex verlieren, müssen wir ja nicht aufhören, weiter zu kämpfen. Dieses Buch ist ein eindringlicher und wichtiger Reminder, wie viel noch zu tun ist. Daher von mir eine ganz klare Leseempfehlung für dieses vielschichtige und wertvolle Buch!

Infos zum Buch im Überblick

Verlag: Arche

Übersetzung: Sabine Kray

ISBN: 978-3-7160-2796-7

Seiten: 352

Erscheinungstermin: 20.08.2021

Vielen Dank, lieber Arche-Verlag, für das Rezensionsexemplar!