Ein multiperspektivisches Porträt einer Familie, die am Abgrund steht – oder vielleicht ist sie auch schon lange hineingestürzt? Jami Attenberg blickt tief in den diesen Abgrund, als der Familienpatriarch Viktor nach einem Herzinfarkt auf der Intensivstation im Sterben liegt. Und dafür braucht sie nur einen einzigen Tag, in dessen Verlauf wie im Kaleidoskop Verletzungen, Intrigen und Erinnerungen aufbrechen und durcheinandergewirbelt werden.
Wenn »Ist alles deins!« ein Omen für mein Lesejahr 2022 sein sollte, dann kann ich es nicht abwarten zu erfahren, was ich sonst noch lesen werde, denn dieser zweite Roman, den ich dieses Jahr gelesen habe, war ein ziemliches Highlight! Schnell geschrieben, aus verschieden Perspektiven geschrieben und nicht zuletzt einfach richtig spannend. Ich bin nur so durch die Seiten geflogen und war gefühlsmäßig irgendwo zwischen Noa Yedlin und Jonathan Franzen. Klingt gut? War es auch!
Wie ein Puppenspieler
Als Viktor nach einem Herzinfarkt auf der Intensivstation liegt, reagieren seine nächsten Familienmitglieder komplett unterschiedlich – seine Frau versucht weiterhin ihre 20.000 Schritte am Tag zu walken, seine Tochter Alex will die Wahrheit über die Machenschaften des Vaters wissen und sein Sohn Gary erscheint nicht – und doch sind sie in einem vereint: Viktor ist der Regisseur in all diesen Leben, hat manipuliert und beeinflusst und spielt mit den Menschen, die ihn umgeben, ein dunkles Puppentheater, bei dem er stets alle Fäden in der Hand behält.
Am Ende bleibt Hass
Es ist nicht zu viel verraten, dass Viktor den Herzinfarkt nicht überlebt und im Laufe von 24 Stunden im Krankenhaus stirbt. Nachdem Jami Attenberg in diesen 320 Seiten – die nur so verfliegen – aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet hat, wie diese Familie (nicht) funktioniert und uns als Leser:innen nach und nach die volle Einsicht in alle Geschehnisse gibt, bleibt am Ende dieses unglaublichen Porträts eines übrig: Hass.
»›Ich frag mich, was der gemacht hat, dass sie ihn so hassen‹, sagte Corey. ›Das muss man erstmal hinkriegen, dass die eigene Familie so dermaßen aufhört, einen zu lieben.‹« Jami Attenberg in »Ist alles deins!«, S. 296
Jami Attenberg ist eine begnadete Erzählerin und baut eine unglaubliche Spannung auf, indem sie uns in gleich alle Gefühls- und Gedankenwelten der unterschiedlichen Akteur:innen eintauchen lässt. So wissen wir als Leser:innen am Ende sehr genau, was Viktor eigentlich »gemacht hat, dass sie ihn so hassen« und bleiben atemlos zurück. Ihre Figuren wissen es nicht, sondern mutmaßen bis zum Ende. Nur für uns als Außenstehende erschließt sich das Bild dieses skrupellosen, gewalttätigen und manipulativen Mannes in Gänze und setzt sich Stück für Stück zu einem verstörenden – aber auch erschreckend realistischen – Bild zusammen. So ist es wohl alles andere ein Zufall, dass »Ist alles deins!« zur Zeiten der Präsidentschaft Donald Trumps spielt. Zu einer Zeit, in der ein skrupelloser und vom Kapital getriebener Mann das wohl mächtigste Amt der Welt innehatte …
Wer sollte dieses Buch lesen?
- Alle, die ein spannendes und vielschichtiges Familienporträt suchen.
- Alle, die eintauchen wollen in ein Stück Gesellschaftskritik zwischen Connecticut und New Orleans.
- Alle, die weder in Spannung noch in tiefe Abstriche machen wollen, sondern einen Text suchen, der beides gleichermaßen bedient.
Und bei mir so?
»Ist alles deins!« ist ein Buch, das bleiben wird. Ich habe kaum gemerkt, wie ich durch die Seiten geflogen bin und war überrascht, dass ich so schnell 300 Seiten gelesen haben soll. Immer wieder habe ich gedacht, bereits den Höhepunkt erreicht zu haben (oder Tiefpunkt, je nachdem), als eine weitere unglaubliche, aber nicht unrealistische, Verstrickung hinzukam. Auch wenn diese Familie hoffentlich ein absolutes Extrem ist, so werden sich in den Dynamiken, die hier ins Unerträgliche gesteigert werden, viele wiedererkennen.
Wichtig vorab zu wissen: Jami Attenberg schildert Szenen expliziter häuslicher Gewalt.
Infos zum Buch im Überblick
- Schöffling & Co
- Umschlagbild von T. S. Harris
- Aus dem Englischen von Barbara Christ
- 320 Seiten. Gebunden. Lesebändchen
- ISBN: 978-3-89561-358-6
Vielen Dank an Schöffling & Co für das Rezensionsexemplar!
Kommentare von Anne